Das Schwein unter den Fischen
und die neuen Kontaktlinsen holt sie erst am Nachmittag ab. Sie ist nicht von hier, in ihrer Heimatstadt brauchte sie nie einen Stadtplan. Unsicher schaut sie zu mir hinunter, dreht einen Fuß gekünstelt zur Seite, als wolle sie wieder gehen. Ich habe zu lange geschwiegen, sie zu lange abschätzig betrachtet. Ich reiße mich zusammen und lege die Hand auf den aufgeschlagenen Notizblock. Ich weiß, wo das Arbeitsamt ist, Tante Trixi hatte mich einige Male dorthin mitgenommen. Sie hat immer mindestens drei Nummern auf einmal gezogen. Bis heute weiß ich nicht, warum.
Die Frau hat sich auf den Weg gemacht, den ich ihr gesagt habe, ihr zitroniges Parfüm hängt noch in der Luft. Von weitem beobachte ich, wie ihre Schritte sich an der nächsten Straßenkreuzung wieder verlangsamen. Ich beginne, sie zu zeichnen.
Wenige Minuten später nähert sich mir eine weitere Frau. Diesmal zielstrebig. Sie trägt einen Parka und hat zwei geflochtene Zöpfe. Für diese Frisur ist sie eigentlich zu alt. Sie sieht aus, als hätte sie seit zwanzig Jahren nichts an ihrem Aussehen verändert. Ihre Augen sind verheult, an ihrem Zeigefinger hängt ein Schlüsselbund. Ich sitze ihr im Weg. Sie streckt mir die Hand mit dem Schlüsselbund entgegen.
»Hi, ich bin Betti. Eigentlich Elisabeth. Aber das muss nicht sein. Bist du Celestine?«
Ich schüttele Bettis kalte Hand, der Schlüsselbund rasselt.
»Ja, aber das muss nicht sein. Die meisten nennen mich Stine. Ich habe schon mehrmals geklingelt.«
»Der alberne Gong! Wir bräuchten hier mal ein richtiges Ringring. Jo meditiert um diese Zeit. Deshalb hat er seine Bauarbeiterkopfhörer auf den Ohren. Selbst das Telefon hört Jo im Nirwana nicht. Ich wollte rechtzeitig hier sein, aber mein Meerschweinchen lag heute früh ganz apathisch in seinem Kot und wollte nicht fressen. Verständlich, oder? Wer hat schon noch Appetit, wenn man in der eigenen Scheiße liegt!« Sie zwinkert mir zu, während sie das sagt.
»Tut mir leid. Was hat es denn?«, frage ich.
»Weiß nicht, ich habe es eben beim Tierarzt abgegeben. Vielleicht ist es heute Abend schon tot. Ich soll mich drauf einstellen, hat der Scheißtyp gesagt. Aber der gute Tierarzt war zu weit weg für heute Morgen. Habe mein Auto neulich nicht mehr durch den TÜV gekriegt.«
Sie zieht die Schultern hoch.
»Aber was soll’s. War ja nur ein Auto. Obwohl ich echt an Frank gehangen hab!«
»Frank?«
»Na, das Auto, Frank das Auto. Mein erster Schwarm hieß so, Frank. Ist nie was aus uns geworden, egal … Ich gehöre nicht zu den Leuten, die behaupten, die große Liebe könne nur auf Gegenseitigkeit beruhen. Was für Langweiler!«
»Äh, ja, kann sein«, murmle ich.
»Das hört sich nicht danach an, als hättest du eine Meinung zu irgendwas. Musst du auch nicht, jung müsste man sein. Scheiße, bin ich schon wieder hektisch, ich habe einen zu hohen Blutdruck, seit ich vierzig bin. Du musst mir gleich mal deine Handynummer geben. Und sowieso deine Daten. Ich mach hier nämlich den ganzen Bürokram. Und dafür das ganze verfickte Soziologiestudium. Studierst du?«
»Nee. Erst mal nicht.«
»Besser so! Ich wünschte, ich hätte mit zwanzig einfach bloß irgendwas gearbeitet, um zu sparen. Dann hätte ich jetzt auf Korsika meine Hütte mit Ziege am Strand und würde meinen eigenen Käse fabrizieren. Aber so kann man sich ja nicht mal Urlaub leisten.«
Sie schließt endlich auf, ich stehe hinter ihr, sie macht einen Schritt zurück und rammt mir ihren bunten Schulranzen ins Gesicht.
»Vorsicht auf den billigen Plätzen! Das Ding ist echt sperrig, aber robust, ich häng dran.«
Sie schließt noch eine weitere Tür auf, schaltet dann überall Licht an und ruft:
»Komm rein, trau dich!«
Ich folge ihr durch ein riesiges Wartezimmer in ein kleines Büro. Es hängen lauter Landschaftsbilder an der Wand, und es riecht nach Lavendel. Sie stellt mir einen Holzstuhl hin.
»Vorsicht, Splitter! Willst du was trinken? Oder frühstücken? Du kannst dir ein Brot schmieren, ich zeig dir die Küche.«
Wir gehen durch einen langen Flur. In der Küche steht ein großer Holztisch, drumherum bunte Stühle. Betti schaut in den Kühlschrank, auf dem ein klitzekleines Radio mit langer Antenne steht. Sie stellt verschiedene Sorten Marmelade auf den Tisch.
»Alles nur Gelee, ohne Stückchen! Mögen wir hier nämlich nicht. Hoffe, das ist okay für dich?« Dann stellt sie noch einen Tetrapak Kirsch- und Orangensaft dazu.
»Ohne Fruchtfleisch. Fruchtfleisch
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