Das sechste Herz
Haftnotiz vom Block ab, schrieb »Vater von Magnus G.?« darauf und klebte sie auf sein Notizbuch.
Heutzutage wurden für die Therapie der antisozialen Persönlichkeitsstörung pharmakologische Methoden und die transkranielle Magnetstimulation vorgeschlagen, bei der mithilfe starker Magnetfelder bestimmte Bereiche des Gehirns stimuliert oder gehemmt werden konnten.
Doktor Solomon hatte bei Magnus Geroldsen anfangs die klassische Methode getestet: Reden. Nach der fünfseitigen Eingangsdiagnose begannen seine Aufzeichnungen über die Gespräche mit Geroldsen – oder besser gesagt, die Gesprächsversuche. Solomon hatte es zuerst mit Verständnis für die Entstehungsgeschichte der Störung versucht. Das war im Normalfall hilfreich, weil der Therapeut so mögliche traumatische Re-Inszenierungen, also die Gefahr erneuter seelischer Verwundungen herausfinden konnte. War der Patient der Therapie gegenüber aufgeschlossen, konnte man im Anschluss daran arbeiten. Der Teufelskreis negativer Erfahrungen konnte so durchbrochen werden.
Leider hatte Solomon bei Magnus Geroldsen damit auf Granit gebissen. Die Aufzeichnungen des Kollegen wimmelten von Bemerkungen wie: »verschließt sich den Gesprächsansätzen«, »wirkt verstockt«, »antwortet nicht auf Fragen« oder »weigert sich, Testbogen auszufüllen«.
Stattdessen hatte Frieder Solomon notiert, dass Geroldsen Grimassen geschnitten oder stur aus dem Fenster geschaut hatte. Es musste frustrierend für den Kollegen gewesen sein.
Mark betrachtete den langsam vorantickenden Zeiger der Uhr, während er sich das Szenario vorstellte. So, wie er selbst Geroldsen erlebt hatte, war zu erwarten gewesen, dass dieser sich verweigerte. Er blätterte bis zum Ende der Mappe. Agnes hatte etwa achtzig Seiten kopiert. An diesem Abend würde er es nicht mehr schaffen, die gesamte Akte durchzugehen. Er dachte an Anna und seine Kinder und beschloss, die Aufzeichnungen bis zur Hälfte durchzuackern und sich dann auf den Heimweg zu machen. Es war besser, den Bogen nicht zu überspannen. Auch die Familie hatte ein Recht auf seine Aufmerksamkeit.
Nachdem die Gesprächsversuche bei Geroldsen ins Leere gelaufen waren, hatte Solomon ein bisschen herumexperimentiert. Bei dissozialen Verhaltensweisen im Kindes- und Jugendalter wurden seit Längerem erfolgreich bestimmte Arzneimittel eingesetzt. Doktor Solomon hatte sich anfangs für ein niederpotentes Neuroleptikum mit dämpfender antipsychotischer Wirkung entschieden. Seinen Aufzeichnungen nach war der Einsatz erfolglos geblieben, und so hatte er ein Jahr später zu Benperidol , einem hochpotenten Mittel, dem stärksten unter allen in Europa verfügbaren Neuroleptika, gewechselt.
Mark musste nicht im Arzneimittelkatalog nachsehen, um zu wissen, dass Benperidol starke Nebenwirkungen hatte. Wie bei fast allem in der Medizin gab es zu jedem erwünschten Effekt unerwünschte Folgen. Eigentlich wurde das Mittel wegen seiner sehr ausgeprägten unerwünschten Wirkungen nur noch selten verwendet, weil mittlerweile weit verträglichere Neuroleptika existierten. Solomon hatte vor sechs Jahren damit begonnen, Magnus Geroldsen Benperidol- Tabletten verabreichen zu lassen. Als dieser sich dagegen gewehrt hatte, war Solomon auf Tropfen umgeschwenkt, vielleicht weil er diese – auch wenn es nicht erlaubt war – unbemerkt in Getränke mischen lassen konnte.
Auf Seite dreißig hatte Solomon notiert: »gesteigerte Frühdyskinesie in Form unfreiwilliger, abnormer Bewegungen im Kopf- und Schulterbereich«. Frühdyskinesien waren unwillkürliche Zuckungen, die oft im Anfangsstadium der Einnahme von Neuroleptika auftraten. Als Gegenmaßnahme konnten Medikamente mit muskelentspannender Wirkung gegeben werden. Anscheinend hatten sich bei Geroldsen die Nebenwirkungen sehr schnell gebessert, und auch wenn er noch immer nicht zu Gesprächen bereit gewesen war, hatte Frieder Solomon im Lauf der nächsten Monate doch eine deutliche Besserung seines Zustandes diagnostiziert. In seiner geschwungenen Schrift hatte er »Verringerung der psychotischen Symptome«, »Rückgang von Denk- und Gefühlsstörungen« protokolliert.
Mark sah zur Uhr und beschloss, das Aktenstudium für heute zu beenden. Es war ihm ein Rätsel, wie der Kollege die Besserung festgestellt haben wollte. Geroldsen sprach auch nach Jahren kein einziges Wort mit Solomon, wie dieser selbst aufgeschrieben hatte. Als einzige Alternative kam infrage, dass Magnus Geroldsen sich anderen Mitarbeitern in Obersprung
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