Das Sigma-Protokoll
ihren Sessel gefesselt schien wie an einen Rollstuhl.
»Wenn Sie mich töten, kommen Sie nie lebend aus Buenos Aires raus«, krächzte Francisco. »Die finden Sie, verlassen Sie sich drauf. Die foltern Sie, bis Sie um den Tod betteln.«
»Strassers Adresse!«
»Ich hab sie nicht«, sagte Francisco. »Sie müssen mir glauben. Ich hab keine Ahnung, wie Sie an ihn rankommen.«
»Sie lügen«, sagte Ben. »Ihr kennt euch alle. Ihr steht alle in Kontakt miteinander. Wenn Sie ihn erreichen wollten, dann könnten Sie es auch.«
»Ich bin ein Nichts. Kümmert die einen Dreck, wenn Sie mich umbringen. Und die finden Sie, da können Sie sich drauf verlassen.«
Wer sind ›die‹?, fragte sich Ben.
»Wer ist Jürgen Lenz?« Er drückte die Mündung der Pistole fester gegen Franciscos Stirn.
»Er ist sehr mächtig, er kontrolliert... ihm gehört das Haus hier. Er nennt sich Jürgen Lenz und...«
»Wie heißt er wirklich?«
»Lassen Sie die Waffe fallen und machen Sie langsam einen Schritt rückwärts!«
Die tiefe und ruhige Stimme mit spanischem Akzent gehörte zu einem großen, kräftigen Mann, der hinter Ben in der Tür stand und eine Schrotflinte mit abgesägtem Lauf auf ihn gerichtet hielt. Er hatte einen mächtigen Brustkorb, war Ende zwanzig, Anfang dreißig und trug eine Hose aus dickem grünem Stoff und ein grobes Baumwollhemd.
»Roberto, Gott sei Dank!«, rief die alte Dame.
»Soll ich ihn töten, Senora?«, fragte Roberto.
Ben zweifelte keine Sekunde, dass er abdrücken würde, falls die Witwe ihm das befahl. Was sollte er tun? Francisco war zwar seine Geisel, aber er würde es nie fertig bringen, ihn zu töten. Und selbst wenn er es könnte, Roberto würde ihn in derselben Sekunde erschießen.
Vielleicht lässt er sich bluffen?
»Roberto!«, sagte die alte Dame. »Wirf ihn raus!«
»Lassen Sie die Waffe fallen, oder ich schieße!«, sagte Roberto. »Was mit dem Penner passiert, ist mir scheißegal.« Dabei deutete er mit dem Lauf auf Francisco.
»Aber der Señora ist das ganz und gar nicht egal«, erwiderte Ben. »Vorschlag: Wir nehmen gleichzeitig unsere Waffen herunter. Und zwar ganz langsam.«
»Okay«, sagte Roberto.
Beide ließen gleichzeitig ihre Waffen sinken. Dann stand Ben vorsichtig auf.
»Und jetzt zur Tür«, befahl Roberto. Ben ging langsam rückwärts. In der rechten Hand hielt er die Pistole, die linke Hand tastete hinter seinem Rücken nach Hindernissen. Roberto folgte ihm in die Diele.
»Ich will nur, dass Sie von hier verschwinden«, sagte Roberto mit ruhiger Stimme. »Wenn Sie sich jemals wieder in der Nähe des Hauses blicken lassen, werde ich Sie ohne Vorwarnung erschießen.« Francisco hatte sich inzwischen aufgesetzt und beobachtete die Szene benommen. Ben tappte rückwärts durch die offene Haustür und zog sie hinter sich ins Schloss.
Ein paar Sekunden später rannte er die Straße hinunter.
Anna bezahlte das Taxi und betrat das kleine Hotel, das in einer ruhigen Straße in Buenos Aires’ Stadtviertel La Recoleta lag. Ihr
war etwas unwohl bei dem Gedanken, dass das sicher kein Hotel war, in dem eine junge allein reisende Frau lange unbemerkt blieb.
Der Portier begrüßte sie mit Namen, was sie ebenfalls störte. Am Morgen hatten sie und Ben eingecheckt, jeder für sich im Abstand von mehreren Stunden. Auch die Reservierungen hatten sie getrennt vorgenommen. Im selben Hotel zu wohnen war logistisch sinnvoll, barg aber auch gewisse Risiken.
Der Wagen des Zimmermädchens stand vor ihrem Zimmer. Das passte ihr gar nicht. Sie hatte Akten durchgehen und ein paar Anrufe machen wollen. Das musste jetzt warten. Als sie die Tür aufmachte, sah sie das Zimmermädchen über ihren offenen Koffer gebeugt.
Sie durchsuchte Annas lederne Aktenmappe.
Anna blieb wie angewurzelt stehen. Das Mädchen schaute auf, sah Anna und ließ die Aktenmappe in den Koffer fallen.
»Was zum Teufel machen Sie da?«, fuhr Anna das Mädchen an und ging auf sie zu. Das Mädchen reagierte mit einem empörten Wortschwall auf Spanisch, als Anna sie fragte, was sie da gesucht habe. »Qué haces? Vení para acá! Qué cuernos haces revisando mi valija?«
Plötzlich stieß das Zimmermädchen Anna zur Seite, lief hinaus auf den Gang und war schon verschwunden, als Anna ebenfalls auf den Flur stürzte. Nicht mal den Namen auf dem Namensschild hatte sie entziffern können.
Das Mädchen hatte anscheinend keine Wertsachen stehlen wollen. Sie hatte Annas Aktenmappe durchsucht. Ob sie Englisch verstand,
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