Das Sigma-Protokoll
Ihnen eine Visitenkarte gegeben? Irgendwas, wo seine Abdrücke drauf sein könnten?«
»Nein, kann mich nicht erinnern. Warten Sie... Er hat das Foto angefasst. Das aus Peters Züricher Schließfach.«
»Wie viele Leute hatten das Foto sonst noch in der Hand?«
»Sie, der Historiker von der Züricher Uni, Liesl. Und Lenz. Sonst keiner.«
»Hat er es nur am Rand gehalten oder wie?«
»Er hielt es richtig in beiden Händen, drehte es um und hat es sich ganz genau angeschaut. Seine Fingerabdrücke müssten überall sein.«
»Sehr gut. Ich lass eine Kopie machen und schicke das Original zur Untersuchung nach Washington.«
»Wie das? Ich dachte, Ihre Privilegien von Amts wegen sind Sie los?«
»Aber Denneen nicht. Er hat sicher einen Freund in einer anderen Behörde, der das Foto überprüfen kann. Vielleicht beim FBI.«
Ben schien unschlüssig zu sein. »Na ja, wenn es uns dabei helfen kann, etwas über Lenz zu erfahren. Oder über Peters Mörder.«
»Wunderbar. Danke.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »Wir müssen los. Beim Essen können wir weiterreden. Ich hab mich mit einem Detektiv, Sergio Soundso, verabredet. In einem Lokal im Stadtteil La Boca.«
Die Taxifahrerin, eine Frau in mittleren Jahren, trug ein Top, aus dem zwei fette, schwabbelige Arme ragten. Auf dem Armaturenbrett stand das gerahmte Foto eines Kindes - wahrscheinlich ihres. Am Rückspiegel baumelte ein winziger Ledermokassin.
»Ein Priester mit Knarre«, murmelte Anna vor sich hin. »Und ich hab früher schon einen Schreck bekommen, wenn mir mal eine Dominikanernonne über den Weg gelaufen ist.« Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt einen grauen Faltenrock und eine weiße Bluse. Den schlanken Hals schmückte eine Perlenkette, ihr Parfüm roch nach frischen Blumen. »Und der Priester hat gesagt, dass das Haus Jürgen Lenz gehört?«
»Wörtlich hat er gesagt: ›Er nennt sich Jürgen Lenz.<«
Sie fuhren jetzt durch ein schäbiges Arbeiterviertel im Süden von Buenos Aires. Links von der Straße verlief der Riachuelo Canal. In dem stehenden Wasser dümpelten rostende Schwimmbagger, Leichter und Speicherschiffe. Entlang des Kanals reihten sich Lagerhäuser und Fleischfabriken aneinander.
»Und Gerhard Lenz hatte also keine Kinder.« Anna runzelte die Stirn. »Hab ich jetzt irgendwas nicht mitgekriegt?«
»Er ist Lenz, und er ist es auch wieder nicht.«
»Dann ist der Mann, den in Wien jeder als Jürgen Lenz kennt, ein Betrüger?«
»Das könnte man daraus schließen.«
»Auf jeden Fall haben die alte Dame und ihr Stiefsohn Angst vor ihm, richtig?«
»Richtig.«
»Aber warum sollte sich Jürgen Lenz als Sohn eines derart abscheulichen Menschen ausgeben?«, überlegte sie. »Das ergibt keinen Sinn.«
»Was wissen wir schon von den Nachfolgregelungen bei Sigma? Vielleicht war das die einzige Möglichkeit, sich in die Organisation einschleichen zu können - als direkter Nachkomme eines der Gründer.«
»Wenn er überhaupt zu Sigma gehört.«
»Schätze, davon können wir ausgehen. Was hat Chardin gesagt: Die Frage ist nicht, was sie kontrollieren, sondern was nicht .«
Als es dunkel wurde, kamen sie in ein pulsierendes, schummerig beleuchtetes Viertel. Rosa, ocker und türkis bemalte Hütten mit Wellblechdächern säumten die Straßen, die nicht gerade den sichersten Eindruck machten.
Das Taxi hielt vor einem Lokal. Es war gerammelt voll. Die Gäste drängelten sich lachend und trinkend vor der Bar und an den knarzenden Holztischen. An der Wand hinter der Bar hing unübersehbar ein Farbporträt von Eva Perón. Die Deckenventilatoren drehten sich träge.
Sie bestellten Empanadas, Rotwein und eine Flasche Mineralwasser. Die Weingläser rochen nach dem alten Schwamm, mit dem man sie gespült hatte, und als Servietten mussten einfache Kleenex-Tücher herhalten.
»Was meinte die Witwe wohl, als sie von der Firma gesprochen hat?«
»Sigma - zumindest hab ich das angenommen.«
»Könnte aber auch die andere Firma sein, Armakon AG. Die mit Jürgen Lenz im Aufsichtsrat.«
»Was wollen Sie diesem Machado von der Sache erzählen?«
»Gar nichts«, sagte Anna. »Er soll nur Strasser für uns finden.«
Zum Dessert nahmen sie ein paar Humitas - Gebäck mit süßer Maisfüllung - und Kaffee.
»Der Interpol-Mann, dieser Peralta, war ja anscheinend auch keine große Hilfe«, sagte Ben.
»Der hat rundweg abgestritten, dass Strasser noch in Buenos
Aires leben könnte. Äußerst verdächtig. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg hatten die
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