Das Sigma-Protokoll
Verbindung als die zwischen Zwillingen. Sie ist enger als zwischen den meisten Ehepartnern. Wir haben uns gegenseitig beschützt. Es war fast so, dass wir die Gedanken des andern lesen konnten. Wenn wir uns gestritten haben, was ziemlich oft vorkam, hatten wir hinterher beide Schuldgefühle. Konkurrenten waren wir eigentlich nur beim Sport, ansonsten nicht. Wenn er glücklich war, war ich es auch. Wenn ihm was Angenehmes passiert ist, war es so, als wäre es mir passiert. Und umgekehrt.«
Zu Bens Überraschung hatte Anna Tränen in den Augen. Sofort wurden auch seine Augen feucht.
»Das Wort ›eng‹ist eigentlich ziemlich unpassend, um unser Verhältnis zu beschreiben. Man beschreibt das Verhältnis von Hand und Körper ja auch nicht als eng. Er war wie ein Teil meines Körpers.«
Plötzlich tauchten all die Erinnerungen und Bilder wieder auf. Der Mord an Peter. Seine wundersame Auferstehung. Sie beide als Kinder, wie sie lachend durchs Haus tobten. Peters Beerdigung.
Als er merkte, dass er gleich anfangen würde zu schluchzen, hielt er sich eine Hand vors Gesicht und wandte sich verlegen ab.
Es überraschte und bewegte ihn, dass auch Anna leise zu weinen schien. Sie nahm seine Hand und drückte sie. Die Tränen glänzten auf ihren Wangen. Vorsichtig, um ihm nicht wehzutun, umarmte sie ihn und legte ihr feuchtes Gesicht an seine Schulter. Das völlig Natürliche ihrer Nähe berührte ihn tief. Er hatte das Gefühl, dass sich ihm ein Teil ihres vielschichtigen und leidenschaftlichen Wesens erschloss. Gegenseitig spendeten sie sich Trost. Er spürte ihren Herzschlag und ihre Wärme an seiner Brust. Dann hob sie den Kopf von seiner Schulter und drückte ihm zögernd die Lippen auf den Mund. Sie hielt die Augen geschlossen, während sie sich zunächst zurückhaltend und zärtlich, dann immer leidenschaftlicher küssten. Seine Arme umschlangen ihren geschmeidigen Körper. Mit seinen Fingern, mit seinem Mund, mit seiner Zunge tat er alles, was ihm der Augenblick eingab. Sie überschritten die unsichtbare Grenzlinie, die beide für sich gezogen hatten. Die hohe Mauer, mit der sie ihre natürlichen Empfindungen in Schach gehalten hatten, fiel.
Schließlich schliefen sie erschöpft und eng umschlungen ein.
Als Ben eine halbe Stunde später aufwachte, war Anna verschwunden.
Der grauhaarige Mann stellte den gemieteten Mercedes am Straϐenrand ab. Die letzten hundert Meter auf der kopfsteingepflasterten Calle Estomba ging er zu Fuß. Er befand sich im Herzen Belgranos, einer der reichsten Wohngegenden von Buenos Aires. Der Grauhaarige, der einen gut geschnittenen blauen Anzug trug, begegnete einem jungen Mann, der sechs Hunde auf einmal Gassi führte. Er nickte ihm lächelnd zu.
Das Haus, das der Mann ansteuerte, war eine aus roten Ziegelsteinen im georgianischen Stil erbaute Villa. Er ging an dem Grundstück vorbei und tat so, als bewunderte er die Architektur des Gebäudes. Dann kehrte er um. Auf dem Gehweg vor der Villa stand ein cremefarbenes Wachhäuschen. Der Wachmann trug über seiner Uniform eine orangefarbene, fluoreszierende Weste. Alle paar hundert Meter stand eins von diesen Häuschen.
Ein sehr ruhiges, sehr sicheres Viertel, dachte Trevor Griffiths. Ideal. Der Wachmann beäugte ihn von oben bis unten. Trevor nickte jovial und ging auf ihn zu.
Anna verpackte Bens Foto, fuhr mit dem Taxi zu einem Büro von DHL Worldwide Express und schickte den Brief an Denneens Privatadresse im Washingtoner Stadtteil Dupont Circle. Sie hatte DHL weder am Telefon noch im Hotelzimmer gegenüber Ben erwähnt, und zudem während der Fahrt darauf geachtet, dass niemand ihr folgte. Sie war sich ziemlich sicher, dass das Foto problemlos in die USA gelangen würde.
Jetzt befand sie sich in der Nähe der Facultad Medicina. Sie stand im Türbogen eines Geschäfts unter einem roten Lucky-Strike-Schriftzug und beobachtete ein Café an der Ecke Junin und Viamonte. Der Name des Cafes, Entre Tiempo, stand groß auf der Schaufensterscheibe. Die knallbunten, schrägen Buchstaben sollten wohl jede Menge Spaß verheißen. Eng umschlungene Pärchen und Studenten mit Daypacks schlenderten vorbei. Unmengen gelb-schwarzer Taxis wälzten sich durch die Straße.
Diesmal würde es keine Überraschungen geben.
Sie hatte sich den Treffpunkt vorher genau angeschaut, hatte sich mit Sergio Machado für Punkt halb sieben verabredet und eine Dreiviertelstunde vor der Zeit Posten bezogen. Ein öffentlicher Platz bei Tageslicht. Sie hatte ihm
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