Das Sigma-Protokoll
gesagt, er solle sich an einen Tisch am Fenster oder möglichst nah ans Fenster setzen. Und er solle sein Handy mitbringen. Machado hatte ihre Vorsichtsmaßnahmen mehr amüsiert denn verärgert zur Kenntnis genommen.
Fünf vor halb sieben betrat ein weißhaariger Mann das Cafe. Über einem blauen Hemd mit offenem Hemdkragen trug er einen blauen Blazer. Die Beschreibung passte zu der, die Machado ihr gegeben hatte. Kurz darauf setzte er sich an einen Fenstertisch und schaute hinaus auf die Straße. Sie zog sich in das Geschäft zurück und beobachtete ihn durch die Glastür weiter. Dem Ladenbesitzer hatte sie schon bei ihrer Ankunft gesagt, dass sie auf ihren Mann warte.
Um fünf nach halb winkte Machado dem Kellner.
Zwei Minuten später stellte der Kellner eine Cola auf den Tisch.
Falls Machado etwas mit der Entführung vom Vorabend zu tun hatte, dann müssten sich in der Nähe des Cafés Komplizen von ihm herumtreiben. Anna konnte keinerlei Anzeichen dafür entdecken. Kein Passant, der sich ausgiebig die Auslagen ansah oder am Kiosk in Zeitschriften blätterte, niemand, der in einem parkenden Auto saß. Anna wusste, wonach sie Ausschau zu halten hatte. Machado war allein.
Er konnte seine Helfer natürlich auch im Café platziert haben.
Möglich. Aber darauf war sie vorbereitet.
Um Viertel vor sieben zog sie Bens Handy aus der Tasche und wählte Machados Handynummer.
Es klingelte einmal. »Si?«
»Anna Navarro.«
»Hallo. Sind Sie aufgehalten worden?«
»Nein, ich hab mich ganz einfach verfranzt«, sagte sie. »Die Stadt kommt mir wie das reinste Chaos vor. Könnten Sie nicht zu dem Café kommen, wo ich gerade bin? Ich hab Angst, dass ich mich noch mal verirre.« Sie gab ihm eine Adresse, die nur ein paar Straßen entfernt war.
Sie sah, wie er aufstand, etwas Kleingeld auf den Tisch legte und das Cafe verließ, ohne mit jemandem zu sprechen oder irgendwem ein Zeichen zu geben. Sie wusste, wie er aussah, aber er kannte ihr Aussehen nicht.
Er überquerte die Straße und ging direkt an der Ladentür vorbei, sodass sie ihn sich noch mal genauer anschauen konnte. Trotz der weißen Haare war er noch keine fünfzig. Er hatte sanfte braune Augen und machte einen sympathischen Eindruck. Er trug keine Aktentasche.
Sie wartete ein paar Sekunden und folgte ihm dann.
Er fand das Café ohne Probleme und ging hinein.
Eine Minute später trat auch sie ein und steuerte seinen Tisch an.
»Würden Sie mir erklären, wozu das jetzt gut war?«, fragte Machado.
Anna berichtete, was ihr und Ben am Abend zuvor zugestoϐen war. Er schien aufrichtig entsetzt zu sein.
Machado hatte das etwas finstere Aussehen eines italienischen Filmstars aus den Sechzigern. Seine Haut war von einem dunklen, makellosen Braun. Er trug eine dünne Goldkette um den Hals und eine am linken Handgelenk. Zwischen den eng stehenden Rehaugen grub sich eine tiefe, senkrechte Sorgenfalte in die Stirn. Kein Ehering.
»Die Polizei ist durch und durch korrupt«, sagte er. »Da haben sie völlig Recht. Manchmal beauftragen sie mich mit Ermittlungen, weil sie ihren eigenen Leuten nicht trauen.«
»Das überrascht mich nicht.«
»Jetzt wissen Sie auch, warum bei uns im Fernsehen keine argentinischen Polizeiserien laufen. Polizisten sind keine Helden, sie sind Abschaum. Ich kann das beurteilen. Ich war einundzwanzig Jahre bei der Bundespolizei, dann ließ ich mich pensionieren.«
Am Nebentisch brachen ein paar junge Leute - nach ihrem Aussehen zu urteilen Studenten - in lautes Gelächter aus.
»Die Menschen haben Angst vor der Polizei«, sagte er erregt. »Sie fordern Schutz vor der Brutalität der Beamten. Die schieϐen und töten beim kleinsten Anlass. Sind Ihnen eigentlich die Uniformen aufgefallen?«
»Sehen aus wie die in New York.«
»Und zwar exakt. Sind genaue Kopien der New Yorker Uniformen. Aber das ist schon alles, was sie kopiert haben.« Er lächelte sie freundlich an. »Also, was kann ich für Sie tun?«
»Ich suche einen Mann namens Josef Strasser.«
Er hob die Augenbrauen. »Tja, der alte Bastard lebt irgendwo unter falschem Namen. Keine Ahnung wo, aber ich kann mich ja mal umhören. Wird nicht einfach sein. Wollen Sie seine Auslieferung erreichen?«
»Nein, ich will nur mit ihm sprechen.«
Er streckte sich. »Wirklich?«
»Ich könnte vielleicht an ihn rankommen, aber dazu brauche ich Ihre Hilfe.« Sie erzählte ihm von Bens Besuch bei Lenz’ Witwe. »Wenn Vera Lenz oder ihr Stiefsohn mit Strasser in Verbindung stehen, dann
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