Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
geben, dass kein Schüler jemals wieder eine so törichte Frage wagen sollte. Was auch niemand mehr wagte. Und niemandem außer ihm, so schien es Bento, war jemals aufgefallen, dass das Volk Israel mit seiner kollektiven, ehrfürchtigen Haltung gegenüber der Thora ebenjene Sünde begangen hatte, vor der Gott sie durch Moses am meisten gewarnt hatte: die Götzenanbetung. Die Juden auf der ganzen Welt huldigten nicht goldenen Götzen, sondern Götzen aus Papier und Tinte.
Als er einem kleinen Boot nachsah, das in einem Seitenkanal verschwand, hörte Bento, wie jemand auf ihn zugerannt kam. Er schaute auf und sah Manny, den Sohn des Bäckers, seinen pummeligen, leicht begriffsstutzigen, aber treuen Klassenkameraden und lebenslangen Freund. Reflexartig lächelte Bento und blieb stehen, um seinen Freund zu begrüßen. Doch Manny rannte unbeirrt weiter, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, über die Brücke und die Straße hinunter zur Bäckerei seines Vaters.
Bento erschauerte. Also war der Cherem nun tatsächlich verhängt worden! Natürlich hatte er gewusst, dass er Realität war – Rabbi Morteras feindseliger Blick hatte es ihm verraten und auch die leeren Straßen und Rebeccas Ohrfeige, die ihm immer noch auf der Wange brannte. Aber erst als Manny sich von ihm abgewandt hatte, brach die Realität mit voller Wucht über ihn herein. Er schluckte und dachte: Umso besser – sie zwingen mich nichts zu tun, was ich nicht aus freien Stücken getan hätte. Ich fürchtete das Aufsehen, aber da sie es so wollen, werde ich nun freudig den Weg beschreiten, der sich mir eröffnet hat.
»Ich bin kein Jude mehr«, murmelte Bento und lauschte dem Klang dieser Worte. Er wiederholte sie immer wieder: Ich bin kein Jude mehr . Ich bin kein Jude mehr . Ich bin kein Jude mehr . Er fröstelte. Das Leben erschien ihm kalt und herzlos. Aber das Leben war schon kalt gewesen, seit sein Vater und seine Stiefmutter gestorben waren. Von heute an war er kein Jude mehr. Vielleicht konnte er als exkommunizierter Jude nun denken und schreiben, wie er wollte, und würde mit Nichtjuden Meinungen austauschen können.
Mehrere Monate zuvor hatte Bento sich insgeheim geschworen, ein gesegnetes Leben von Aufrichtigkeit und Liebe zu führen. Als Nichtjude konnte er nun friedvoller leben. Die Juden hatten immer behauptet, dass wahre Meinungen und ein wahrer Lebensplan, geboren aus Vernunft statt aus prophetischen, mosaischen Schriften, auf dem Pfad der Glückseligkeit nichts zu suchen hätten. Gegen die Vernunft zu wettern ergab für Bento keinen Sinn, und weshalb sollte er nun, da er Nichtjude war, nicht ein Leben der Vernunft leben können?
Als er von der Brücke trat, dachte Bento plötzlich: Was bin ich? Wenn ich kein Jude bin, was bin ich dann? Er suchte in seiner Tasche nach dem Notizbuch, das er immer bei sich trug – dasselbe Notizbuch, in das er damals seine Eintragungen gemacht hatte, als er van den Enden kennen gelernt hatte. Er wandte sich nach rechts in eine kleine Straße, setzte sich ans Ufer der Gracht und suchte nach einer Antwort in seinen schriftlichen Aufzeichnungen der letzten beiden Jahre. Dann las er die Kommentare nach, die seinen Entschluss explizit unterstützten:
Wenn ich mich unter Individuen befinde, welche mit meiner Natur sehr wenig übereinstimmen, so werde ich kaum ohne größere Veränderung meiner selbst mich ihnen anbequemen können.
Der freie Mensch, der unter Unwissenden lebt, sucht,
so sehr als möglich, ihren Wohltaten auszuweichen.
Der freie Mensch handelt niemals arglistig, sondern stets aufrichtig.
Nur die freien Menschen sind einander höchst nützlich
und durch die festesten Bande der Freundschaft
miteinander verbunden.
Und es ist jedem nach dem höchsten Naturrecht erlaubt, klare Vernunft einzusetzen, um sich für ein Leben zu entscheiden, das ihm seiner Meinung nach zum Vorteil gereicht.
Bento klappte sein Notizbuch zu, stand auf und kehrte durch die verlassenen Straßen zu seinem Haus zurück, um seine restlichen Habseligkeiten zu holen. Plötzlich rief eine verzweifelte Stimme hinter ihm: »Baruch Spinoza, Baruch Spinoza.«
22
BERLIN, 1922
Berlin am ersten Frühlingstag war ungefähr so, wie Alfred es von seinem kurzen Aufenthalt im Winter 1919 in Erinnerung hatte. Unter einem granitgrauen Himmel mit beißend kaltem Wind und einem ständigen, leichten Regen, der nie den Boden zu erreichen schien, hockten griesgrämige, in mehrere Kleiderschichten eingemummte Ladenbesitzer in ihren
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