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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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knorrig wie eine Faust. Die 54. Gebirgsjägerbrigade hatte sie eingeholt. Erneut mußte er gegen den Drang ankämpfen, in Richtung Dorf zu schauen. Gewiß hatte jemand aus der Karawane alles mit angesehen und floh mit den anderen längst in die Berge. Shan warf einen Blick auf seine Gefährten. Nyma war erbleicht und sah zu Boden. Lokesh blickte gen Himmel. Lhandro saß noch immer auf der Erde und fixierte mit blutigem Gesicht den Oberst, halb verängstigt, halb haßerfüllt. Er sah hier den Kampfverband Lujun vor sich, der seine Vorfahren massakriert hatte.
    Oberst Lin streckte plötzlich die Hand aus und nahm einen Schlagstock vom Gürtel des nächstbesten Soldaten. Dann ging er zu Shan, der mittlerweile auf die kleine Blutlache bei Lhandro starrte, und hob mit dem Ende des Stocks schweigend Shans Kinn an. Ihre Blicke trafen sich, und Lin musterte ihn für einen Moment.
    »Han«, flüsterte Lin, und es klang wie ein Fluch. Er war im gleichen Alter wie Shan, ein paar Zentimeter kleiner und mit metallischem Glanz in den Augen. Der Offizier zögerte kurz, als würde er sich fragen, ob Shans Miene womöglich herausfordernd schien, runzelte die Stirn, ließ den Schlagstock sinken, winkte den Sergeanten heran und wandte sich Lokesh zu. Den alten Tibeter nahm der Oberst sehr viel genauer in Augenschein als Shan, der kaum registrierte, wie der Sergeant seine Taschen abklopfte. Sein Blick war auf das Ende des Stocks gerichtet, und seine Beine spannten sich an, um vorspringen und den Treffer abfangen zu können, falls Lin ausholte, um Lokesh zu schlagen. Aber der Oberst nahm Lokeshs freien Arm am Handgelenk und drehte ihn um, um die Handfläche zu betrachten.
    »Nichts«, meldete der Sergeant.
    Lins Augen funkelten eisig, als er wieder Shan ansah. »Du hast keine Papiere?« fragte er ruhig.
    »Nur eine Broschüre, die mich Klarheit lehren soll«, sagte Shan.
    Lin schien sich über den Widerstand zu freuen. Ein mattes Lächeln legte sich auf seine Züge, und er bedeutete dem Sergeanten, das Klemmbrett zu holen, das auf dem Stuhl lag. »Du wirst mir deinen Namen nennen.«
    Shan blickte erneut zu der Blutlache.
    Lin ließ Lokeshs Arm los und hielt dem alten Tibeter die ausgestreckte Hand entgegen.
    »Hast du Papiere, Genosse?« fragte Lin auf chinesisch.
    Was hatte er in Lokeshs Handteller gesucht? Lin wollte keinen Stein finden, sondern eine bestimmte Person, deren Hand eine Besonderheit aufwies: Vielleicht die Schwielen eines entflohenen Zwangsarbeiters? Oder doch keine Schwielen? Narben? Wußte Lin etwa, wer seinen Stein gestohlen hatte?
    Anstatt die Papiere aus Lhadrung vorzuweisen, setzte Lokesh sein schiefes Grinsen auf, was Lin zu amüsieren schien. Der Oberst musterte noch einmal Shan und neigte interessiert den Kopf, um Lokeshs graubärtigen und einst eindeutig gebrochenen Kiefer zu betrachten, als sei er ein Fachmann für gebrochene Kiefer. Er sah Lokesh in die Augen, nahm wieder den Arm des alten Mannes und schob ihm den Ärmel hoch. Fünfzehn Zentimeter oberhalb der Hand war auf der Innenseite eine Nummer eintätowiert.
    »Lao gai« , stellte Lin zufrieden fest und rief die Nummer dem Sergeanten zu, der mit dem Klemmbrett hinter ihm stand. »Wir haben nach seinem Namen gefragt«, sagte der Oberst mit Blick auf Shan, seufzte, nahm Lokesh die Mütze vom Kopf und reichte sie vorsichtig einem der Soldaten. Dann beäugte er Lokeshs Scheitel und klopfte dabei mit dem Schlagstock sachte auf seine Handfläche.
    »Ich heiße Shan«, sagte Shan und beobachtete die Spitze des Schlagstocks.
    »Ein Han reist mit einem tibetischen Kriminellen«, verkündete Lin vorwurfsvoll.
    Lokesh hob den Kopf. Shan folgte seinem Blick zu einigen Vögeln, die in allenfalls dreißig Metern Höhe auf das Dorf zuflogen. Ein Dutzend Kahlkopfgänse, wahrscheinlich unterwegs zum Lamtso, dachte Shan. Als der Oberst sich umwandte und die Vögel sah, leuchteten seine Augen gierig auf, und er stieß einen kurzen Befehl aus. Ein Soldat rannte zu dem ersten Transporter und holte ein langes halbautomatisches Gewehr. Lin nahm die Waffe und wartete einen Moment. Als die Gänse noch etwa fünfzig Meter entfernt waren, hob er das Gewehr an die Schulter und gab ein halbes Dutzend Schüsse ab. Nyma schrie auf. Lokesh stieß ein leises ungläubiges Stöhnen aus. Zwei der großen Gänse stürzten zu Boden; eine dritte überschlug sich in der Luft und verlor deutlich an Höhe, konnte jedoch weiterfliegen. Einige der Soldaten jubelten, und einer lief los, um die

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