Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
sie.
»Natürlich.« Er duckte sich in den offenen Kamin und spähte in den Schornstein hinauf, wo das unförmige Herz hing. Er rümpfte die Nase. »Es riecht nicht gut, aber es ist noch da.«
»Das macht nichts, der Rauch wird schon dafür sorgen, dass es nicht lange riecht. Aber es ist da, ja?«
»Es ist da.« Dimity runzelte die Stirn und biss sich auf die Unterlippe.
»Dann kann sie mir nichts Böses wollen, oder?«, murmelte sie verwundert. »Sie kann nicht im Zorn hereinge kommen sein, denn das Herz hätte sie daran gehindert, nicht wahr?«
»Wer kann nicht hereingekommen sein, Dimity?«, fragte Zach.
»Die Kleine. Sie ist wieder da. Sie war hier …«
»Die Kleine?« Zach überlegte, wen sie wohl meinen könn te. »Sprechen Sie von Élodie?« Als sie den Namen hörte, erstarrte Dimity. Sie musterte Zach mit einem Gesichtsausdruck, bei dem er sich plötzlich unbehaglich fühlte. »Ich hole uns mal den Tee«, sagte er. Als er an ihr vorbei zur Küche gehen wollte, packte sie seine Hände so fest, dass ihre Daumennägel sich in seine Handflächen bohrten. Er spürte die steife, schmutzstarrende Wolle ihrer fingerlosen roten Handschuhe und bekam vor Ekel eine Gänsehaut. Eine lange, weiße Strähne fiel ihr vors Gesicht, doch sie achtete nicht darauf.
»Sie ist tot. Élodie ist tot«, flüsterte sie. Zach schluckte und glaubte einen Moment lang, eine Frage in diesen Worten gehört zu haben, eine Bitte um Bestätigung.
»Ja, ich weiß«, sagte er. Dimity nickte hastig und wich ein wenig zurück. Sie ließ ihn los, und ihre Hände fielen schlaff herab.
Zach flüchtete in die Küche und atmete tief durch, um sich zu beruhigen, während er den Tee in zwei Becher goss. Zum ersten Mal hatte er das verstörende Gefühl, dass Dimity Hatcher sich nicht ganz im selben Raum aufhielt wie er. Nicht so ganz in derselben Welt. Einige Male schon war er sicher gewesen, dass sie ihn belog. Jetzt jedoch zweifelte er obendrein am Wahrheitsgehalt von Dingen, von denen sie offensichtlich überzeugt war. Er schüttelte das Gefühl ab. Dass er Hannahs falsches Spiel durchschaut hatte, machte ihn wohl misstrauisch gegenüber allem und jedem in Blacknowle. Er bemühte sich um ein Lächeln, als er ins Wohnzimmer zurückkehrte.
»Wir hätten geheiratet, wenn dieses kleine Mädchen nicht gestorben wäre. Wir hätten geheiratet, wenn sie es überlebt hätte, da bin ich ganz sicher«, sagte Dimity und ignorierte den Tee, den er vor sie hinstellte.
»Élodies Tod hat alles zum Stillstand gebracht, nicht wahr? Das muss eine sehr schwere Zeit für Charles gewesen sein. Nach allem, was Sie mir geschildert haben und was ich über ihn nachlesen konnte, war er ein wunderbarer Vater. Lie bevoll, wenn auch manchmal etwas abgelenkt. Ist er letztendlich einfach wegen Élodies Tod an die Front gegangen?« Nach seinen Worten herrschte lange Schweigen, und dann glaubte er, eine leise Melodie zu hören, ein schwaches Summen, ein wortlos klagendes Lied von Dimity. »Das muss alle sehr – erschüttert haben«, bemerkte er. »Ich habe doch irgendwo gelesen, wie sie gestorben ist … War es die Grippe? Ich kann mich gerade nicht erinnern. Sind in den Drei ßigerjahren Kinder denn noch an der Grippe gestorben?«, sagte er wie zu sich selbst, da Dimity mit den Gedanken offenbar immer noch weit weg war.
»Grippe?«, wiederholte sie und wandte sich ihm wieder zu. »Nein, es war …« Sie klappte abrupt den Mund zu und fuhr sich dann mit der flinken Zunge über die trockenen Lippen. »Grippe. Ja. So war es. Ihr Bauch – eine Darmgrippe. Das arme, arme Mädchen, so früh dahingerafft …« Sie schüttelte bekümmert den Kopf und blieb dann still sit zen. »Sie war manchmal gemein zu mir, die kleine Élodie. Es gefiel ihr nicht, dass ihr Vater mich liebte. Sie war ein eifer süchtiges Kind, furchtbar eifersüchtig«, erzählte sie. »Celestes Liebling, o ja. Eine Mutter sollte kein Kind bevorzugen, aber sie tat es. O ja. Élodie kam ganz nach ihr, wissen Sie? Sie war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Wenn sie überlebt hätte, wäre sie einmal eine sehr schöne Frau geworden …« Dimitys Stimme verklang zu einem Flüstern, und Zach musste sich vorbeugen, um sie noch verstehen zu können.
»Ist Celeste deshalb nach ihrem Tod einfach verschwunden? Wohin ist sie gegangen?«
»Ich weiß es nicht. Niemand weiß das. Sie ist davongeweht wie der Wind … Er hat mich das auch gefragt. Dachte, ich wüsste es vielleicht. Aber ich wusste es nicht –
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