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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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preßte. Sprechen konnte sie nicht. Sie
umarmte noch Gustav, küßte seine weichen, kindlichen Lippen, die er ihr
aus dem Wagen entgegenneigte, dann trat sie zu Fritz. Da geschah ihr
etwas Furchtbares. Die Flut ihres Gefühles war plötzlich unterbrochen.
Sie spürte, wie Kälte ihr Herz jäh umklammerte. Sie konnte nicht
weitergehen, stand still und ließ die dem Sohn entgegengehobenen Arme
sinken. Sie sah ihn an. Er war groß, voll und stark für sein Alter,
doch sein Gesicht war noch das eines Knaben, es war schön, es glich dem
ihren mit der zarten, weißen Haut, mit den leuchtenden, klaren Augen,
und ein übermütiges Kinderlächeln lag um seinen Mund. Und doch konnte
sie ihn nicht umarmen. Sie hatte kein Gefühl, keinen Gedanken. Ihr
Gesicht war bleich. Sie starrte ihn an, schwer bewegten sich ihre
Lippen, sie hörte sich selbst sagen: »Tue nie Unrecht!«
    Fritz lächelte sie verlegen an, auch er hätte seine Mutter
gern noch einmal umarmt, doch er wagte nicht, da sie bleich und
unbeweglich vor ihm stehengeblieben war, auf sie zuzutreten. »Adjüs,
Mutter,« sagte er leise, sanft und bewegt klang jetzt seine Stimme,
»ich komme bald auf Besuch.« Sie nickte. Er zog die Zügel an, schnalzte
mit der Zunge und lenkte zum Hof hinaus, ruhig, wie immer. Sie stand
da, unbeweglich, ohne Tränen, bis der Wagen verschwunden war. Die
starke, große Frau wankte und schlich sich mit Mühe ins Haus zurück.
    Nun schien das Leben auf dem Hof beruhigt. Etwas von der alten
Ordnung und Gleichmäßigkeit kehrte wieder und schloß sich über das
Fehlen all der Menschen, die nun schon fortgegangen waren, wie neue,
zarte Haut über einer Wunde. Diese große Beruhigung ging hauptsächlich
von dem Herrn aus, der seine alte Tatkraft wiedergewonnen zu haben
schien, und überall in Haus und Hof, selbst in der verwaisten Küche und
in dem Milchkeller mit dem früheren Fleiß und der weisen Fürsorge allen
voran schaltete.
    Doch nicht mehr mit dem gleichen Segen. Unter den Kühen, deren
einstmals so stattliche Herde schon zusammengeschrumpft war, brach eine
Seuche aus und raffte die Tiere hin, ohne daß Rettung gebracht werden
konnte. Fast jeden Tag mußte der große Wagen angespannt werden, der die
verendeten Tiere in die Stadt zur Abdeckerei brachte. Da das Wetter
ununterbrochen warm und trocken blieb, kein Regen fiel, kein Nachtfrost
mehr kam, konnten wenigstens schnell neue, leichte Viehbaracken
errichtet und die alten Ställe mit Schwefel ausgebrannt, die Wände
geweißt, der Boden mit neuer Erde aufgefüllt werden. Doch kaum war es
gelungen, auf diese Weise die Krankheit zum Stillstand zu bringen,
mußte eines der schönsten und stärksten Pferde, ein Zuchthengst,
erschossen werden, der, zum erstenmal wieder zur Weide geführt, im Hofe
vor einem anrollenden Dungfaß scheute, sich losriß und gegen eine
aufrecht gelehnte Egge so unglücklich anstürmte, daß er vom Hals bis
zum Bauch förmlich aufgerissen wurde. Unversehrt waren nur bis jetzt
die Schafherden geblieben, die Wolle, dicht und lang, versprach eine
gute Schur. Durch die frühe, ungewöhnliche Wärme wuchs und sproßte
alles mit Macht. Im Nu war die Wintersaat bis zu einer halben Elle
aufgeschossen, ehe noch die anderen Felder fertig gedüngt und bestellt
waren. Zu Ostern schon standen die Bäume in voller Blüte. Doch kein
Regen fiel. Anfang Mai war die Hitze schon so groß wie sonst zur
Erntezeit. Die Saat war hoch im Halme, doch die Ähren setzten spärlich
an. Als auch im Mai kein Regen fiel, begannen die Wiesen zu trocknen,
da der kleine Bach, der die gut verteilte Bewässerung speiste, selbst
immer weniger Wasser mit sich führte. Auch der Wasserspiegel des
Teiches begann zu sinken. Die Einnahmen des Hauses waren gegen das
Vorjahr um die Hälfte zurückgegangen, und doch waren jetzt auch noch
die Zinsen für das geliehene Geld aufzubringen, außerdem das Schul- und
Pflegegeld für die Kinder in der Stadt und die noch immer laufenden
Ausgaben für die Nachforschungen nach dem Kinde Anna. Um immer wieder
Bargeld zu gewinnen, mußte von neuem die Herde als Schlachtvieh
verkauft und das Nutzholz gefällt werden, soweit es nur in der Befugnis
der Pacht stand. Es wurde gearbeitet wie früher, das Gesinde hatte
alles vergessen, es wurde gelacht, geruht und gefeiert wie früher, die
Arbeit gelohnt, aber ihre Früchte vergingen. Doch nur der Herr merkte
das. Er versuchte sich zu wehren, hielt alles fest in der Hand,

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