Das verlorene Land

wahrscheinlich am wenigsten begreifen. Auch Kipper war zutiefst verunsichert,
als er merkte, dass er hier mit den Konsequenzen seiner politischen Entscheidungen konfrontiert wurde, die er ganz bequem Tausende von Kilometern entfernt von einem Ort wie der Kreuzung von Broadway und 26. Straße gefällt hatte, wo jungen Männern wie diesem Tomlinson die Glieder weggeschossen wurden.
    »Ich bin sehr stolz auf Sie, meine Junge«, sagte er, und es fiel ihm sichtlich schwer. »Wir alle sind stolz.« Er deutete mit dem Kopf auf die Gruppe hochrangiger Männer und Frauen, die im Hintergrund standen und zuschauten. »Und Sie sollen wissen, dass wir in Ihrer Schuld stehen. Ich weiß nicht, ob wir Ihnen diese Schuld jemals vergelten können, aber Sie sollen wissen, dass diese Schuld anerkannt wird, solange noch irgendwo ein Amerikaner auf dieser Welt lebt.«
    »Vielen Dank, Mr. President«, sagte Tomlinson leise. »Ich wollte einfach nur meinem Kumpel helfen.«
    »Genau das ist ja das Bewundernswerte daran«, sagte Kipper und beugte sich vor, um die Medaillen an Tomlinsons Kissen zu heften.
    Er verabschiedete sich von dem jungen Mann und ging weiter, um eine Reihe von bewusstlosen Soldaten zu dekorieren. Ein- oder zweimal musste er innehalten, um sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.
    Bei einem Verletzten war es ihm allerdings unmöglich, Geschlecht oder Hautfarbe zu bestimmen. Blutgetränkte Verbände bedeckten den gesamten Kopf des Soldaten. Durch einen Schlauch wurde Sauerstoff in ein fleischiges Loch geblasen, das keine Ähnlichkeit mit einem Mund hatte. Es waren keine Augenlöcher in den Verband geschnitten worden.
    Kipper fragte nach dem Grund.
    »Ein Granatsplitter ist ihr ins Gesicht geflogen, Mr. President«, erklärte Leong, ohne vorher in seinen Unterlagen nachsehen zu müssen. »Sie hat den Unterkiefer verloren
und außerdem Splitter in den Nasenbereich und in die Augen bekommen. Sie wird nie mehr sehen können, aber wir hoffen, dass wir sie so weit stabilisieren können, um sie nach Sidney in die plastische Chirurgie schicken zu können.«
    Kipper blieb vor der Soldatin stehen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. nachdem er ihr über die bandagierte Stirn gestrichen hatte, heftete er das Purpurherz auf ihr Kissen, stand auf und ging weiter.
    Culver fragte ihn, was er der Frau gesagt hatte. Auch die Offiziere und die Mediziner wollten es unbedingt wissen.
    Der Präsident rieb sich die Augen und holte tief Luft. »Jed«, sagte er, »ich habe sie gebeten, mir zu vergeben. Für meine Schwäche.«

38
    Texas, Regierungsbezirk
    Die Road Agents waren auch schon durch Palestine gekommen. Miguel und die anderen Reiter blieben auf ihren Pferden sitzen, die mit Hufgetrappel die Hauptstraße entlangtrabten und dabei schnaubten, nervös wieherten und wachsam die Ohren aufstellten. Miguel beugte sich vor und klopfte Flossie auf den Hals, um sie zu beruhigen, und nahm die Gelegenheit wahr, um sich nach seiner Tochter umzusehen. Sofia saß mit zusammengepressten Lippen und bleich im Gesicht auf ihrem Pferd, die Remington vor sich über den Sattel gelegt. Alles in allem schien sie ganz gut beieinander zu sein.
    »Ruhig, Mädchen«, sagte er zu seinem Pferd. Es fiel ihm schwer, seine Stimme ruhig zu halten. In ihm brodelte der Zorn.
    Zuerst hatte er absteigen wollen, um die Stute nach dem langen Ritt von ihrem letzten Rastplatz bis hierher am Zügel zu führen. Aber nun wollte er in der Lage sein, jederzeit davonzugaloppieren. Er blieb im Sattel, aber das hatte zur Folge, dass er sich nun genau auf Augenhöhe mit den Leichen befand. Sie hingen an Stricken, die unter ihrer Last knarrten und stöhnten. Dreiundzwanzig hatte er schon gezählt, die allesamt von den Telefon- und Strommasten hingen, die die Straße säumten.
    »Die kamen aus dem Süden«, sagte Miguel leise.
    »Woran sehen Sie das?«, fragte Aronson angespannt. »Die sind doch schon … sehr lange tot.«

    Damit hatte er Recht. Die Leichen waren schon schwarz geworden und hatten sich aufgebläht, bevor sie zerplatzt waren und ihr fauliger Inhalt auf die mit Abfall übersäten Wege gespritzt war. Krähen und andere Aasvögel hatten sich über sie hergemacht. Bissstellen deuteten darauf hin, dass wilde Hunde und andere Tiere versucht hatten, sich den einen oder anderen Leckerbissen zu sichern.
    »An der Art, wie sie gekleidet sind. Und an ihren Haaren«, sagte Miguel. »Sie hatten alle