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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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der Ihren. Nicht länger als Gott auf Erden, sondern als Bruder, Freund und Befreier. So, wie es schon einmal geschehen war, vor eintausendfünfhundert Jahren. Und der Papst wusste so gut wie er, dass es jenseits der Alpen in den Kathedralen von Nürnberg, Köln, Freiburg, Trier und vielen anderen Freigeister gab, die zwar nichts Genaues wussten über das verstümmelte Evangelium, die aber ahnten, dass es mehr gab, und anfingen nachzudenken. Sie warteten auf denjenigen, der eine neue Geschichte erzählen würde, die besser, ehrlicher, liebevoller und spiritueller war. Ein neues Evangelium, das sich auf die Gerechtigkeit auf Erden stützte.
    In den vergangenen Jahrhunderten waren solche Ideen im Keim erstickt worden. Doch der Instinkt von Männern wie Nestor und Pietro Valdo, den Kanonikern von Orleans aus der Gemeinschaft von Arras oder der Katarer selbst war immer noch die Glut, die unter der Asche weiterglühte, die von der Kirche verstreut worden war. Ein Luftzug, der vielleicht ein bisschen stärker als der vorherige war, würde reichen, um das Feuer erneut zu entfachen und jedes Dogma zu verbrennen.
    Giovannis Worte entströmten seinem Mund wie ein Lavafluss: »Eure Heiligkeit, stellt Euch einen Christus vor, der erneut auf die Erde hinabsteigt und der zu jedem Volk in seiner eigenen Sprache spricht. Stellt Euch vor, Eure Heiligkeit, stellt Euch das nur vor: ein Volk, das endlich versteht und auf die Straße geht und verlangt, was ihm zusteht. Bauern, Handwerker, Händler – Menschen, die nicht mehr mit gesenktem Haupt beten und bettelnd die Hand öffnen, um die himmlischen Almosen zu empfangen. Die Zeit ist reif dafür, Eure Heiligkeit: Die Menschen wollen nicht mehr warten, dass ihnen ihre Würde, ihre Liebe und ihre Freiheit erst in einem weit entfernten Himmelreich zurückgegeben wird, dessen Existenz nicht einmal gewiss ist – nein, sie verlangen nun all das, was ihnen das Leben bisher vorenthalten hat.«
    »In diesem Moment, Medici, habt Ihr Euer Todesurteil unterzeichnet«, antwortete ihm der Papst eisig. »Die Anklage lautet: Verrat, Häresie, Meineid und Gottesverleumdung. Wir werden Eure Zunge einbalsamieren und sie dem Volk zeigen als Warnung.«
    Der Kardinal warf sich zu Füßen des Pontifex, umarmte seine Beine und legte seinen Kopf auf Alexanders Schoß. Fassungslos über diese Demutsgeste spürte der Papst, wie die Hände des Kardinals durch die edle Leinenalbe seine Schenkel streichelten. Abscheu erfasste ihn.
    Als Giovanni de’ Medici weitersprach, klang seine Stimme jedoch nicht flehend, sondern beinahe verschwörerisch.
    »Nein, mein Vater«, fuhr er fort, »Ihr habt noch nicht verstanden. Es existiert nicht nur das Zeugnis derer, die seit Jahrhunderten die Erinnerung an diese Ereignisse hüten, sondern es gibt ein Buch. Geschrieben von dem, der über Jahre hinweg an der Seite des Gottessohnes weilte und auch noch nach seinem vermeintlichen Tod weiterlebte. Es existiert ein Buch, das erklärt, was wirklich geschah, und das jenes Geheimnis lüftet, das wir alle so dringend ignorieren wollen und das unsere Evangelien nicht erwähnen: die Jahre seiner Jugend, sein geistiger Weg und das Mannwerden, bevor Jesus nach Palästina zurückging. Und die Ereignisse danach, als er floh, von allen verfolgt und von vielen verraten, bis zu seiner Rückkehr in dieses ferne Land, in dem heute noch Tausende von Menschen an sein Grab gehen und beten.«
    Giovanni erhob sich. Er breitete die Arme aus und starrte dem Papst in die Augen.
    »Dieses Buch, mein Vater, befindet sich hier in Rom. Und ich möchte es Euch zum Geschenk machen.«
    Er schloss die Augen, legte seine Hände an die Stirn und atmete tief ein. Der Pontifex sagte zunächst kein Wort und begann dann, als er realisierte, was Giovanni da gesagt hatte, wie dieser zu atmen: keuchend und schwer. Wie zwei Raubtiere standen die Männer sich gegenüber. Alexander fühlte sich wie früher vor seinem Lehrer, als er versuchte, die Worte, die zu ihm vordrangen, logisch zu sortieren, um ihnen einen Sinn – welchen auch immer – zu geben. Sein Lehrer war ein sanfter und verständnisvoller Mann gewesen, der vollkommen ungeeignet war, um die rebellische Natur seines Schülers zu beherrschen, dafür war es ihm jedoch stets gelungen, Alexander mit dem sanften Singsang seiner Stimme zu beruhigen. In diesen Momenten war Alexander immer überzeugt, nichts von dem verstanden zu haben, was ihm gerade erzählt worden war. Dass dem mitnichten so war, vergaß der junge

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