Das Vermächtnis des Martí Barbany
einem Diadem aus grünen Smaragden geschmückt war. Ramón fühlte das Gleiche wie bei der ersten Begegnung, und alles in seinem Umkreis entschwand: Die Gespräche klangen nun wie ein Gemurmel, und er hatte nur noch Augen und Ohren für dieses faszinierende Geschöpf.
Was er in diesem Moment nicht einmal ahnen konnte, war, dass mit Almodis, der Grafengemahlin von Toulouse, das Gleiche geschah. Man hatte sie ja aus Gründen der hohen Politik verheiratet, als sie ein kleines Mädchen war, sie zweimal verstoßen und schließlich einem Mann übergeben, der viel älter als sie und nun schon ein Greis war. Die Erscheinung des stattlichen katalanischen Ritters, seine edle Gestalt und sein glänzender Blick ließen in ihr etwas aufflammen, was ihr bisher vollständig unbekannt war. Amor traf sie mit zielsicherem Pfeil mitten ins Herz, und die Gräfin spürte, dass in ihrer Seele eine Leidenschaft aufkeimte, die wie Vulkanlava ihr Innerstes überschwemmte.
Nach den konventionellen Sätzen, wie sie die Regeln der guten Erziehung verlangten, machten sie sich zum Abendessen bereit. Almodis wies dem Grafen von Barcelona den Platz zu ihrer Rechten zu, dem Abt den zu ihrer Linken und Robert von Surignan den ihr gegenüber. Die Diener benahmen sich nun wie durchsichtige Geister, sie liefen hin und her, um dem kleinsten Wink ihrer Vorgesetzten zu gehorchen. Die Suppe wurde in kleinen Näpfen aufgetragen, und die Klößchen, die darin schwammen, nahm man zwischen Daumen und Zeigefinger, ebenso wie die Austern. Am Ende sah Ramón, dass man neben jeden Gast eine kleine Schale mit Duftwasser und einer Zitronenscheibe stellte, und jeder reinigte die fettigen Finger, indem er sie in die Schale tauchte und die Zitronenscheibe auspresste. Danach reichten vier aufmerksame Edelknaben jedem Tischgast ein Leinentuch, damit man sich die Hände abtrocknen konnte.
Die Abendmahlzeit verlief in freundlicher und zwangloser Stimmung, doch ein geheimnisvolles Band der Sympathie vereinte zunehmend Ramón und die Gräfin. Ein Diener löschte die Fackeln, die den Raum erhellt hatten, sodass er nun im Halbdunkel lag. Im Hintergrund erschienen zwei Domestiken. Sie trugen ein Gestell, auf dem eine herrliche Torte mit einer Kerze in der Mitte zu sehen war, die das Wappen von Barcelona beleuchtete. Es bestand aus wilden Himbeeren und Konditorenrahm, der ein duftiges Schaumgebäck überzog. Der Graf wollte
gerade aufstehen, um für eine solch köstliche Ehrung zu danken, da spürte er, dass seine Wade sanft gestreichelt wurde. Er wandte sich der Gräfin zu und sah, dass sie lächelte: Was ihn liebkoste, war offenkundig nichts anderes als ihr unter der Tischdecke verborgener nackter Fuß. Am Grund ihrer grünen Augen entdeckte er nun das Funkeln einer unverkennbaren Botschaft, die nur jene Auserwählten zu deuten vermögen, deren Herz derselbe Pfeil Cupidos durchbohrt hat. »Ich begehre Euch«, sagten ihre Augen, während die Gräfin gerade aus ihrer schmalen Ärmelöffnung ein zusammengefaltetes Pergamentblättchen hervorholte und ihm heimlich hinhielt, wofür sie die Gelegenheit nutzte, dass es im Raum kurze Zeit finster war. Ramón streckte die Hand aus und nahm das Briefchen entgegen. Sofort versteckte er es in einer Tasche seines Überrocks. Der Abt und der Kammerherr waren abgelenkt, so schien es, weil sie nur auf die Torte und auf die Verrichtungen der Diener achteten, die sich anschickten, wieder die Lichter anzuzünden.
Als sich die Gräfin zurückgezogen hatte, machten es sich die drei Männer dann am gemütlichen Kaminfeuer bequem, doch es war dem Geist des Grafen unmöglich, dem Gespräch zu folgen, das der Abt Sant Genís und Robert von Surignan mit ihm führen wollten. Sein einziger Wunsch war, seine Gemächer aufzusuchen, damit er in Ruhe die Nachricht lesen konnte.
8
Die Offenbarung
Barcelona, Mai 1052
M artí nahm das versiegelte Pergament, das ihm der Priester gegeben hatte. Mit einem Federmesser schlitzte er das Siegel auf. Das Pergament war zweimal zusammengefaltet und an manchen Stellen schwer zu lesen, denn die Zeit hatte einige Teile halb ausgetilgt. Martí segnete seine Mutter und Don Severs Eifer, ihn in der Buchstabenkunde zu unterrichten, und erinnerte sich an dessen Worte: »Ein Abt oder Bischof gilt ebenso viel wie ein Graf oder Markgraf oder noch mehr.« Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und begann mit der Lektüre.
Heute, am Tag des Herrn, dem 3. Mai 1037
Lieber Sohn!
Ich weiß nicht, wie viel Zeit bis zu
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