Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
konnte alles ändern. Noch war sich Thymmo nicht sicher, ob er es aussprechen sollte. Sollte er Johannes von Hamme auf eine letzte Probe stellen? Die nächsten Worte kamen deshalb zögerlich. »Vielleicht seid Ihr es, der sich irrt. Eure Macht ist nicht unantastbar …«
Der Scholastikus winkte ab. »Mach dich nicht lächerlich, Thymmo. Ich weiß längst, was der Rat noch vor mir zu verbergen versucht. Meine Augen und Ohren sind überall. Oder glaubst du etwa, ich bin zu dumm, um Erkundigungen einzuholen? Ich soll meines Amtes als Oberhaupt der Nikolaischule enthoben werden, und Christian Godonis gilt als mein Nachfolger. Doch dazu wird es nicht kommen. Ich habe viel zu viel Einfluss auf den Erzbischof, dessen erster Brudersohn Ludwig von Brunkhorst das Amt des Propstes Hamburgs anstrebt und dessen zweiter Brudersohn, Florenz von Brunkhorst, sogar begehrt, eines Tages selbst zum Erzbischof gewählt zu werden. Sei wenigstens du nicht so töricht, wie der Rest der Ratsherren zu glauben, dass der Erzbischof diesem Vorschlag je stattgeben wird. Er wird meine Stimme bei den Wahlen nie gefährden.«
Darauf wusste Thymmo nichts zu sagen. Er musste zugeben, dass ihm die Unerschütterlichkeit des Magister Scholarum durchaus imponierte. Ganz offensichtlich hatte dieser Mann nichts zu befürchten – weder vor dem Rat noch vor dem Erzbischof! Er schien genau zu wissen, was er tat und was er wollte, und er schreckte auch nicht davor zurück, sich Ehlers zu entledigen. Der Günstling eines solchen Mannes zu sein, konnte sich durchaus lohnen.
Doch was Thymmo viel mehr noch beschäftigte, war das, was der Scholastikus über Johann Schinkel gesagt hatte. Konnte es wirklich sein, dass der Ratsnotar ihm bloß vorspielte, ihn eines Tages zum Domherrn zu machen? Und was, wenn er es tatsächlich nicht tat? Welches Leben wäre ihm dann bestimmt? Thymmo musste die Wahrheit herausfinden. Das Leben, das er bislang so hoch geschätzt hatte, erschien ihm nun verlogen und unsicher. Sein Blick schien ihn zu verraten, denn der Scholastikus ging einen Schritt zur Seite und gab die Tür frei.
»Finde selbst heraus, was die Wahrheit ist. Das kannst nur du allein. Ich kann warten.«
5
Es war ungefähr zwei Stunden vor der Vigil, als sich die Tür einer Kammer im Kloster Buxtehude langsam und geräuschlos öffnete. Zu dieser Zeit war die Einsamkeit auf den Kreuzgängen gewiss. Keine der Frauen wollte sich um ihren Schlaf bringen, der durch die Stundengebete und durch die zusätzlichen Regeln der Fastenzeit sowieso schon nicht besonders üppig ausfiel. Tybbe wog sich also in Sicherheit, als sie die Gänge entlangschlich. Die Dunkelheit konnte sie nicht aufhalten. Hier kannte sie sich auch ohne Tageslicht aus. Sie wusste genau, wie sie die Holztüren zu öffnen hatte, damit sie nicht knarrten, und welche Klinken auf welche Weise gedrückt werden mussten, damit sie nicht quietschten. Unbemerkt gelangte sie so zu ihrem Ziel: die klösterliche Küche.
Sie stieg die wenigen Stufen hinab. Hier war es kühl, doch das bemerkte die junge Frau gar nicht. Sie trug all ihre wenigen Kleider übereinander, und die Aufregung brachte ihr Blut in Wallung. Langsam und leise tastete sie sich in nahezu völliger Dunkelheit an den Wänden entlang, bis sie spürte, dass sie an jener Stelle angelangt war, die sie hatte erreichen wollen.
Fast war es ihr, als könnte sie tatsächlich sehen – so viel Zeit hatte sie einst, in den ersten Jahren im Kloster, hier verbracht. Demut sollte die niedere Arbeit und das anschließende Bedienen der Chorjungfrauen sie lehren. Es hatte gewirkt. Aber das war lang her.
Tybbe hatte die Herdstelle zu ihrer Linken bildlich vor Augen, über der ein höhenverstellbarer Kesselhaken hing und um dessen Feuer man Töpfe auf drei Füßen stellte, damit man mehr als einen Topf zur Zubereitung der Speisen hatte. Neben der Feuerstelle stand ein Holztisch mit zwei langen Bänken davor, und dahinter und an den Wänden hingen allerlei Rührstäbe, Schöpfkellen und Stößel. Etliche steinerne Vorsprünge zierten die andere Seite der Wand, auf denen unzählige Mörser, Tonkrüge und Schalen standen. Darüber, an der Decke, befanden sich eiserne Ringe und Haken, an denen Fleisch und Kräuter sicher vor Ratten aufbewahrt wurden.
Hinter einem der Vorsprünge ging Tybbe auf alle viere. Mit ihren Fingerspitzen tastete sie die ungleichmäßige Wand ab. Schnell hatte sie gefunden, was sie suchte. Es war ein ganz bestimmter Stein. Er war von der Größe
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