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Das Vermächtnis des Rings

Das Vermächtnis des Rings

Titel: Das Vermächtnis des Rings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bauer
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schimmerte weiß und makellos wie Seide, und es bewegte sich auf seinen schlanken Beinen so graziös und lautlos, dass Raskell nicht anders konnte, als sekundenlang reglos dazuhocken und nichts anderes zu tun, als es zu bewundern. Ein langes, nadelspitz auslaufendes Horn wuchs aus seiner Stirn.
    »Warten Sie, bis es an den See geht«, flüsterte Holm. »Und dann schießen Sie. Aber schießen Sie gut. Sie werden keine Gelegenheit zu einem zweiten Schuss haben, wenn der erste nicht trifft. Es ist ungeheuer schnell.«
    Raskell nickte wortlos, nahm das Gewehr an die Schulter und visierte das Einhorn durch das Zielfernrohr an. Die Optik holte den schlanken Pferdekopf so nah heran, als stände es auf Armeslänge vor ihm.
    Sein Finger tastete nach dem Abzug.
    »Jetzt!«, zischte Holm.
    Raskell rührte sich nicht. Er schien wie erstarrt, gelähmt und von dem unglaublichen Anblick in einen Bann geschlagen, den er sich weder erklären konnte noch wollte. Das Einhorn trat an den See, hob noch einmal, vorsichtig und misstrauisch, den Schädel und begann dann langsam und mit kleinen Schlucken zu trinken. Seine Flanken zitterten leicht, und die Vorderhufe scharrten unruhig im Boden.
    »Schießen Sie«, sagte Holm ungeduldig. »Eine Chance wie diese bekommen Sie nicht noch einmal.«
    Raskeils Finger krümmte sich um den Abzug. Das dünne Fadenkreuz des Zielfernrohrs war genau zwischen die Augen des Einhorns gerichtet. Eine winzige Bewegung, ein kaum merkliches Zurückziehen des Fingers, und es würde ihm gehören. Ein Wild, wie es noch kein Jäger vor ihm erlegt hatte…
    »Nein.«
    Er ließ das Gewehr sinken, schüttelte den Kopf und atmete hörbar aus. Er konnte es nicht. Nicht dieses Wild.
    Es war zu schön, zu unschuldig; ein Traum, für einen kurzen flüchtigen Moment wahr geworden.
    Holm starrte ihn fassungslos an. »Wie bitte?«, fragte er. »Sie…«
    »Ich will es nicht«, sagte Raskell ruhig. »Sie bekommen Ihr Geld, Holm, keine Sorge. Aber ich will es nicht erschießen.«
    »Sie sind verrückt!«, keuchte Holm. »Sie verschenken gerade zehntausend Dollar!«
    Raskell schüttelte den Kopf und blickte wieder auf die Lichtung hinaus. Das Einhorn stand noch immer am Seeufer und trank; weiß, schön und unwirklich.
    »Es ist zu schön zum Sterben«, sagte er leise. »Ich will es nicht haben, Holm. Es reicht, dass ich es gesehen habe.«
    Holm riss ihm mit einer unwilligen Bewegung die Büchse aus der Hand. »Dann tue ich es eben!«
    Bevor Raskell ihn zurückhalten konnte, war Holm bereits aufgesprungen und aus seiner Deckung hervorgebrochen. Das Einhorn schrak zurück. Sein Kopf ruckte hoch.
    »Holm!«, brüllte Raskell. »Nicht!«
    Er sprang auf und wollte Holm die Waffe aus der Hand schlagen.
    Holm gab ihm einen wütenden Stoß vor die Brust, der ihn meterweit zurücktaumeln ließ, riss die Büchse hoch und krümmte den Finger um den Abzug.
    Die Kugel klatschte dicht vor den Hufen des Fabeltiers in den See und ließ das Wasser aufspritzen. Das Einhorn wieherte schrill, stieg auf die Hinterbeine und fuhr auf der Stelle herum, um zu fliehen.
    Holm fluchte ungehemmt und zielte erneut. Aber er kam nicht dazu, einen zweiten Schuss anzubringen. Eine kleine, in Umhang und breitkrempigen Hut gekleidete Gestalt schien plötzlich vor dem Einhorn aus dem Boden zu wachsen.
    Holm erstarrte für eine halbe Sekunde.
    »Harbo!« Seine Stimme bebte. Er senkte das Gewehr, funkelte den Troll mit unverhohlenem Hass an und hob die Büchse dann wieder.
    »Tu es nicht«, sagte Harbo leise. »Bitte, Freund Holm.«
    Holm lachte rau. Das Einhorn war zwischen den Büschen verschwunden, aber das schien ihn nicht zu stören. »Ich habe dich gewarnt, Harbo«, sagte er leise.
    Harbo blickte ihn ernst an. »Geh, Holm«, murmelte er. »Geh und kehre nie wieder zurück. Kommst du noch einmal, müsste ich dich töten.«
    Holm antwortete nicht.
    Er schoss.
    Die Kugel traf Harbo in die Schulter und riss ihn von den Füßen. Er fiel, rollte herum und stemmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie. Auf seinem Umhang erschien ein dunkler, feuchtglänzender Fleck.
    Raskell starrte Holm fassungslos an. »Sie…«
    »Halten Sie sich raus, Raskell«, schnitt ihm Holm das Wort ab. »Die Sache geht Sie nichts an!«
    »Es geht mich nichts an, wenn Sie einen Menschen umbringen?« Raskell keuchte. »Sie…«
    Holm fuhr herum. »Halten Sie sich da raus, Raskell, oder ich erledige Sie gleich mit.«
    Raskell ballte die Fäuste und machte einen Schritt auf Holm zu.

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