Das vierte Protokoll
Wahrscheinlichkeit, daß Petrofski tief getarnt nach England gehen würde oder bereits gegangen war. Daran war nichts Ungewöhnliches, denn dafür war er ja ausgebildet worden. Ungewöhnlich war nur, daß das Erste Hauptdirektorat, und damit auch er selbst, strikt aus dieser Operation herausgehalten worden waren. Das ergab keinen Sinn, wenn man seine eigene Englanderfahrung bedachte.
Seine Beziehung zu Großbritannien hatte vor zwanzig Jahren ihren Anfang genommen, an einem Septemberabend im Jahr 1967, als er in den Westberliner Bars herumzog, die vom dienstfreien britischen Militärpersonal frequentiert wurden. Der eifrige und aufstrebende Illegale war weisungsgemäß auf der Pirsch.
Sein Auge war auf einen mürrischen, mißmutig dreinschauenden jungen Mann am anderen Ende der Bar gefallen, dessen Zivilkleidung und Haarschnitt auf die British Armed Forces verwiesen. Er machte sich an den einsamen Trinker heran, der sich als neunundzwanzigjähriger Funker bei einer Abhöreinheit der RAF entpuppte, die in Gatow stationiert war. Der junge Mann haderte zutiefst mit seinem Schicksal.
Von diesem September an bis Januar 1968 bearbeitete Karpow den RAF -Mann, indem er sich zunächst, seiner Legende gemäß, als Deutscher ausgab, sich dann aber als Russe zu erkennen gab. Es war ein leichter »Fang«, so leicht, daß es fast schon verdächtig war. Aber nein, die Sache war in Ordnung; der Engländer fühlte sich durch die Bemühungen des KGB um seine Person geschmeichelt, haßte wie jeder Versager seinen Dienst und sein Land und erklärte sich bereit, für Moskau zu arbeiten. Im Sommer 1968 unterwies Karpow ihn persönlich in Ost-Berlin, wobei er ihn kennen und verachten lernte. Der Berlinaufenthalt und die Militärzeit des RAF-Mannes gingen ihrem Ende zu; er sollte im September nach England zurückkehren und demobilisiert werden. Man schlug ihm vor, er solle sich nach seinem Ausscheiden aus der Luftwaffe um eine Stellung im GCHQ in Cheltenham bewerben. Er war einverstanden und erhielt den Posten im September 1968. Sein Name war Geoffrey Prime.
Damit er Prime weiterhin »führen« konnte, wurde Karpow, als Diplomat getarnt, an die Sowjetbotschaft in London versetzt, und er war drei Jahre lang Primes Leitoffizier, bis er 1971 wieder nach Moskau zurückging und seinen Agenten einem Nachfolger übergab. Doch der Fall hatte seiner Karriere mächtigen Aufwind gegeben, und er wurde zum Major befördert, unter gleichzeitiger Rückversetzung in die Dritte Abteilung. Dort verarbeitete er Primes Quellenmaterial bis Mitte der Siebziger. Es ist bei jedem Nachrichtendienst Usus, daß eine Operation, die hervorragendes Material erbracht hat, gebührend registriert und gepriesen wird. Und selbstverständlich wird der zuständige Führungsoffizier entsprechend mitgepriesen.
1977 kündigte Prime beim GCHQ; die Engländer wußten, daß irgendwo eine undichte Stelle war, und die Spürhunde schnüffelten herum. 1978 kam Karpow wieder nach London zurück, diesmal als Leiter der Rezidentura im Range eines Oberst. Prime war zwar nicht mehr im GCHQ, arbeitete aber immer noch als Agent, und Karpow ermahnte ihn, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Es gebe, wie Karpow sagte, nicht den Schatten eines Beweises für das, was der ehemalige RAF-Mann vor 1977 getan habe, und Prime könne sich nur selbst um Kopf und Kragen bringen.
Er wäre heute noch ein freier Mann, wenn er seine schmutzigen Pfoten von den kleinen Mädchen hätte lassen können, dachte Karpow grimmig. Denn Primes Schwäche war ihm seit langem bekannt gewesen, und es war schließlich eine Anzeige wegen »unzüchtiger Handlungen«, die zu Primes Verhaftung und zu seinem Geständnis führte. Er bekam fünfunddreißig Jahre wegen Spionage in sieben Fällen.
Doch London bescherte Karpow auch zwei Gelegenheiten zum Ausgleich der Affäre Prime. 1980 wurde er auf einer Cocktailparty einem Beamten des britischen Verteidigungsministeriums vorgestellt. Der Mann hatte Karpows Namen zunächst nicht richtig verstanden und sich einige Minuten lang höflich mit ihm unterhalten, bis er begriff, daß sein Gesprächspartner Russe war. Dann allerdings änderte sich seine Haltung schlagartig. Er wurde eisig und distanziert, was Karpow dahingehend auslegte, daß der Mann ihn entweder als Russen oder als Kommunisten zutiefst verabscheute.
Er war nicht empört, nur verwundert. Er erfuhr, daß sein Gesprächspartner George Berenson hieß, und weitere Nachforschungen während der darauffolgenden
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