Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
Bein heiße Schmerzwellen durch den Körper rasen ließ. Sein Gegner stöhnte ebenfalls und spuckte ihm ins Gesicht.
Um sie herum knarrten Fensterläden, und Männer fluchten. Da sie auch damit drohten, die Randalierer für immer zum Schweigen zu bringen, zerrten die glücklosen Räuber ihren jammernden Kameraden von Rhonan weg und suchten das Weite. Ihr Stöhnen und Schimpfen hörte er noch eine Zeitlang, da er sich selbst nicht zum Aufstehen durchringen konnte. Er zitterte vor Kälte und Anstrengung gleichermaßen, streckte sein linkes Bein vorsichtig aus und biss sich auf die Unterlippe, um einen Schrei zu unterdrücken. Er kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an und starrte in den Himmel. Immer wieder musste er blinzeln, denn der Eisregen war, ohne dass er es überhaupt bemerkt hatte, in dichten Schneefall übergegangen, und eine dünne, weiße Schicht bedeckte ihn bereits. Flocken hingen in seinen Wimpern und ließen die Augen tränen. Wenn er jetzt einschliefe, würde er nicht mehr erwachen: keine Flucht, keine Träume, keine Stimmen, keine Schmerzen … eine unwiderstehliche Verlockung!
Irgendwo bellte ein Hund, und mit dem Fluch »Verdammtes Pack!« wurde nicht weit von ihm ein Nachttopf geleert. Er hörte ein Fiepen, sah rote Augen und nickte der Ratte freundlich zu.
»Verschwinde, du Biest!« Eine junge Frau, eingehüllt in eine wollene Decke, trat wütend in Richtung Ratte, traf das flüchtende Tier jedoch nicht, beugte sich zu ihm herunter und packte seinen Arm. »Komm schon hoch! Hab die ganze Nacht auf dich gewartet. Als ich den Lärm hörte, ahnte ich, dass der mit dir zu tun hatte. Betrunken, wie du ständig bist, ist es kein Wunder, dass dich alle für leichte Beute halten. Komm auf die Füße!« Energisch zog sie und bewies dabei für ihre dürre Gestalt unvermutete Kräfte.
Er kannte das Talermädchen gut genug, um zu wissen, dass es nicht nachgeben würde, zwang sich also auf die Füße, schwankte und lallte: »Milla, Schatz, du solltest um diese Zeit nicht mehr allein draußen sein. Ist nur Gesindel unterwegs.«
Sie schien die Bemerkung nicht witzig zu finden, zog seinen Arm über ihre Schulter, zerrte ihn vorwärts und knurrte: »Ich hab ja einen kräftigen Begleiter bei mir.«
Er schaffte es nicht mehr, zu lachen. Seine verbliebene Kraft benötigte er zum Gehen.
Millas »Ich hoffe, du kannst mich zumindest gleich wärmen, ich spüre meine Füße kaum noch« ließ ihn nicken.
Manchmal meinte das Leben es gut, leider nur viel zu selten.
Tagesanbruch tief im Westen der Reiche
Der höchste Berg des Kimmgebirges war immer schneebedeckt und meist auch windumtost. Heute wehte nur ein laues Lüftchen, und die Sonne beschien den Turm der Winde – Heim der Gelehrten, Heim des Weisen der Berge.
Im eigentlichen Sinne war es gar kein Turm, sondern eine Ansammlung von Gebäuden, die sich auf nah beieinanderliegenden Plateaus befanden. Einst aus Felsbrocken angeschmiegt an den Gipfelberg errichtet, verschmolzen sie nahezu mit ihrer Umgebung und bewahrten so die Bewohner seit Jahrhunderten vor unerwünschten Gästen. Links und rechts des mehrstöckigen Gelehrtenhauses befanden sich Wohnhäuser und Lager. Zu erreichen waren sie entweder über natürliche Bergpfade oder Hängebrücken. Der Weg bergab zur nächsten Behausung, einem Wirtshaus für Jäger und Fallensteller, dauerte im besten Fall sieben Tage und konnte nur zu Fuß oder mit einem Muli bewältigt werden. Noch vor nicht allzu langer Zeit waren die Gelehrten diesen Weg häufig gegangen, um ihr Wissen an die Königs- und Fürstenhäuser zu tragen. Seit der Krieg tobte, benutzten ihn lediglich Minderbegabte, die im Wirtshaus Vorräte bestellten und abholten.
Ein Türmchen, das aus dem Gelehrtenhaus herausragte, hatte der ehemaligen Heimstätte der Schwester des Westens einst den Namen gegeben. Hier lebten in völliger Abgeschiedenheit ihre Nachfahren: Verianer, die sich ganz der Wissenschaft verschrieben hatten.
Geschichte, Sprachen, Sterndeutung, Alchemie …, was auch immer jemals gemalt oder niedergeschrieben worden war, wurde gesammelt, gelesen, wenn nötig übersetzt und aufgehoben. Rückschlüsse aus dem Gelesenen wurden niedergeschrieben und an Kameraden weitergereicht, die ihre Meinung anfügten und das Blatt weiter- oder wieder zurückreichten. Gespräche wurden weitgehend vermieden. Selbst das »Werben« um einen Partner fand in Schriftform statt. Verianer sahen die Pflicht, für Nachwuchs zu sorgen, zwar als unumgänglich
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