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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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langsam unter, wie eine alte Frau, die lange braucht, um die Treppe hinabzuhumpeln.
    Schließlich, nach dem Essen, zogen sich Alma und Ambrose zum ersten Mal gemeinsam in Almas Zimmer zurück. Alma setzte sich auf die Bettkante, und Ambrose tat es ihr gleich. Er griff nach ihrer Hand. Nach langem Schweigen sagte sie: »Wenn du mich kurz entschuldigen möchtest …«
    Sie wollte ihr neues Nachthemd anziehen, sich aber nicht vor ihm entkleiden. So nahm sie das Nachthemd mit in den kleinen Waschraum gleich neben dem Zimmer – denselben, der in den dreißiger Jahren eingebaut und mit einer Badewanne und fließend kaltem Wasser versehen worden war. Alma zog sich aus und streifte das Gewand über. Unschlüssig überlegte sie, ob sie ihr Haar hochgesteckt lassen oder es lösen sollte. Es sah nicht immer vorteilhaft aus, wenn sie es offen trug, doch mit Haarnadeln und Spangen schlief es sich nicht sonderlich bequem. Nach kurzem Zögern beschloss sie, es hochgesteckt zu lassen.
    Als sie wieder ins Zimmer kam, hatte auch Ambrose sein Nachthemd angezogen: ein schlichtes Leinengewand, das ihm bis zu den Schienbeinen reichte. Seine Kleider lagen ordentlich gefaltet auf einem Stuhl. Er stand auf der anderen Seite des Bettes. Die Aufregung sprengte über Alma hinweg wie eine Kavallerie. Ambrose wirkte kein bisschen aufgeregt. Er äußerte sich nicht zu ihrem Nachtgewand. Er winkte sie nur ins Bett, und so stieg sie hinein. Er kam von der anderen Seite, und sie trafen sich in der Mitte. Augenblicklich überfiel sie der schreckliche Gedanke, dass dieses Bett viel zu klein für sie beide zusammen war. Ambrose und sie waren doch so groß. Wo sollten sie mit ihren Beinen hin? Wo mit ihren Armen? Was, wenn sie ihn im Schlaf versehentlich trat? Was, wenn sie ihm unabsichtlich den Ellbogen ins Auge stieß?
    Sie drehte sich auf die Seite, er ebenfalls, und sie sahen einander an.
    »Hort meiner Seele«, sagte er, griff wieder nach ihrer Hand, führte sie an die Lippen und küsste sie, gleich oberhalb der Knöchel, so wie er es den ganzen letzten Monat seit ihrer Verlobung getan hatte. »Du hast mir so viel Frieden gebracht.«
    »Ambrose«, erwiderte sie, überwältigt von seinem Namen, überwältigt von seinem Gesicht.
    »Wenn wir schlafen, können wir die Macht des Geistes am ehesten erahnen«, fuhr er fort. »Unsere Gedanken werden über diese kurze Distanz hinweg zueinander sprechen. Hier, vereint in nächtlicher Stille, werden wir uns endlich von Zeit und Raum lösen können, von den Naturgesetzen und den Gesetzen der Physik. In unseren Träumen werden wir die Welt nach Lust und Laune durchstreifen. Wir werden mit Verstorbenen reden, uns in Tiere und Gegenstände verwandeln, durch die Zeiten fliegen. Unser Verstand ist dann nirgends mehr zu finden, und unser Gemüt wird entfesselt.«
    »Danke«, sagte Alma töricht. Ihr fiel nichts anderes ein, was als Antwort auf eine so unerwartete Ansprache gepasst hätte. Sollte dies eine Art Annäherung sein? Machte man das so, dort in Boston? Sie hatte Angst, dass ihr Atem vielleicht nicht süß duftete. Seiner duftete süß. Wenn er bloß das Licht löschen würde! Als hätte er ihre Gedanken gelesen, drehte er sich um und löschte das Licht. Im Dunkeln war es besser, angenehmer. Sie wollte sich auf ihn zutreiben lassen. Da spürte sie, wie er wieder ihre Hand nahm und sie erneut an die Lippen drückte.
    »Gute Nacht, meine Gemahlin«, sagte er.
    Er behielt ihre Hand in seiner. Sekunden später – sie hörte es an seinen Atemzügen – war er eingeschlafen.
    •
    Alma hatte sich so vieles ausgemalt, erhofft oder auch befürchtet, was in ihrer Hochzeitsnacht geschehen könnte, doch dieses Szenario war ihr nie in den Sinn gekommen.
    Ambrose schlummerte weiter fest und friedlich neben ihr, die Hand leicht und vertrauensvoll um ihre geschlossen, während Alma reglos in der sich ausbreitenden Stille lag und mit weit geöffneten Augen in die Dunkelheit starrte. Klebrig und dumpf senkte sich die Verwirrung über sie. Sie suchte nach möglichen Erklärungen für diesen merkwürdigen Vorfall, blätterte im Register ihrer Gedanken eine Interpretation nach der anderen durch, so wie es ein Wissenschaftler tut, wenn ihm ein Experiment grandios missglückt ist.
    Vielleicht würde er ja bald aufwachen, und sie konnten ihre ehelichen Freuden wiederaufnehmen – oder überhaupt erst aufnehmen. Hatte ihm vielleicht ihr Nachthemd nicht gefallen? War sie etwa zu schamhaft aufgetreten? Oder zu schamlos? Sehnte er

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