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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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sich eigentlich nach der Toten? Dachte er an seine verlorene Liebe aus Framingham, die schon so viele Jahre zurücklag? Vielleicht hatte ihn auch einfach die Nervosität überwältigt. War er den Pflichten der Liebe womöglich gar nicht gewachsen? Doch keine dieser Erklärungen schien zu passen, am allerwenigsten die letzte. Alma wusste genug von solchen Dingen, um zu begreifen, dass die Unfähigkeit zum Geschlechtsakt einen Mann auf die denkbar schrecklichste Weise beschämte – doch Ambrose wirkte ganz und gar nicht beschämt. Er hatte ja nicht einmal den Versuch zu einem Geschlechtsakt unternommen. Im Gegenteil: Er schlief so selig, wie ein Mensch nur schlafen konnte. Er schlief wie ein reicher Ehrenmann in einem noblen Gasthaus. Er schlief wie ein König nach einem langen Tag der Eberjagd und der Turnierkämpfe. Er schlief wie ein mohammedanischer Prinz, beglückt von einem Dutzend hübscher Haremsdamen. Er schlief wie ein Kind unter einem Baum.
    Alma indessen schlief nicht. Es war heiß, es war ihr unbequem, so lange auf der Seite zu liegen, und doch wagte sie nicht, sich zu bewegen, wagte nicht, ihm ihre Hand zu entziehen. Die Haarnadeln und Spangen in ihrer Frisur bohrten sich in die Kopfhaut. Die Schulter, auf der sie lag, wurde taub. Nach geraumer Zeit löste sie sich schließlich aus seinem Griff und drehte sich auf den Rücken, doch es hatte alles keinen Sinn: Die Ruhe wollte sich in dieser Nacht nicht einfinden. Steif und verstört lag sie da, mit offenen Augen und feuchten Achselhöhlen, und suchte im Geiste erfolglos nach einer beruhigenden Begründung für diese höchst unerwartete und widrige Wendung der Dinge.
    Als der Morgen dämmerte, stimmte draußen jeder Vogel auf Erden sein Lied an, als gäbe es keine Angst, wie Alma sie empfand. Alma gestattete sich den winzigen Funken Hoffnung, ihr Ehemann möge im Morgengrauen erwachen und sie in die Arme schließen. Vielleicht würden ja mit dem Tag auch all die erhofften Vertraulichkeiten des Ehelebens anbrechen.
    Ambrose erwachte tatsächlich, schloss sie freilich nicht in die Arme. In kürzester Zeit war er wach, frisch und zufrieden. »Was für Träume!«, rief er aus und reckte die Arme genüsslich über den Kopf. »Schon seit Jahren hatte ich keine solchen Träume mehr. Welche Ehre, die Strömungen deines Daseins teilen zu dürfen. Ich danke dir, Alma! Was für ein Tag nun vor uns liegt! Hast du auch so viel geträumt?«
    Natürlich hatte Alma nicht das Geringste geträumt. Sie hatte die Nacht eingekerkert in hellwachem Grauen verbracht. Dennoch nickte sie. Sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte.
    »Du musst mir versprechen«, sagte Ambrose, »dass wir, wenn wir sterben – wer von uns auch immer vor dem anderen geht –, noch über die Grenzen der Sterblichkeit hinweg Schwingungen aneinander aussenden werden.«
    Wieder nickte Alma töricht. Es fiel ihr leichter, als Worte zu formen.
    Schweigend und benommen sah sie zu, wie ihr Mann aufstand und sich am Zimmerbecken das Gesicht wusch. Dann nahm er seine Kleider vom Stuhl, zog sich artig in den kleinen Waschraum zurück und kam voll bekleidet und bester Laune wieder heraus. Was lauerte hinter diesem warmen Lächeln? Alma entdeckte nichts als noch mehr Wärme dahinter. Er sah noch immer genau so aus wie an dem Tag, da sie ihn zum ersten Mal erblickt hatte: wie ein schöner, kluger, begeisterungsfähiger Mann von zwanzig Jahren.
    Was für eine Närrin sie war!
    »Ich werde dich nun allein lassen«, sagte er, »und dich unten zum Frühstück erwarten. Welch ein Tag vor uns liegt!«
    Alma verspürte Schmerzen am ganzen Körper. Halb benommen vor Steifheit und Verzweiflung erhob sie sich schwerfällig wie ein Krüppel aus dem Bett und kleidete sich an. Sie warf einen Blick in den Spiegel. Das hätte sie besser nicht getan. In einer einzigen Nacht war sie um zehn Jahre gealtert.
    Als Alma endlich hinunterkam, saß Henry bereits am Frühstückstisch. Er plauderte leichthin mit Ambrose. Hanneke brachte Alma eine frische Kanne Tee und warf ihr einen prüfenden Blick zu – einen Blick, wie ihn jede Frau am Morgen nach ihrer Hochzeit über sich ergehen lassen muss –, doch Alma vermied es, sie anzusehen. Sie gab sich Mühe, nicht allzu verschlafen oder mürrisch dreinzuschauen, doch ihre Gedanken waren von der Müdigkeit verlangsamt, und sie wusste, dass sie rote Augen hatte. Sie fühlte sich wie von Schimmel befallen. Doch den Männern fiel das offenbar nicht auf. Henry erzählte gerade eine Geschichte,

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