Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
Vom Netzwerk:
kaum sagen, was ungewöhnlicher an ihm war: die geringe Größe oder die magere Gestalt. Er war nur halb so groß wie Alma und hatte den Körper eines Kindes, und einen ausgemergelten obendrein. Die Wangen waren hohl, die Schultern unter dem Hemd knochig und spitz. Seine Hose wurde von einer doppelt genommenen Schnur in der dürren Taille gehalten. Der Bart reichte ihm bis an die Brust. Er trug eigenartige Sandalen, die ebenfalls aus Schnur gefertigt schienen. Einen Hut trug er nicht, und sein Gesicht war sonnenverbrannt. Seine Kleider hingen zwar nicht ganz in Fetzen, aber doch nahezu. Er sah aus wie ein kleiner, kaputter Sonnenschirm. Er sah aus wie ein gealterter Schiffbrüchiger im Miniaturformat.
    »Reverend Welles?«, fragte Alma erneut, diesmal zögernd, als er fast bei ihr war.
    Mit strahlenden, offenen blauen Augen sah er zu ihr auf – weit zu ihr hinauf. »Ich bin Reverend Welles«, sagte er. »Zumindest gehe ich davon aus, dass ich das immer noch bin, nicht wahr!«
    Er sprach mit feinem, schwer zuzuordnendem britischem Akzent.
    »Reverend Welles, mein Name ist Alma Whittaker. Ich hoffe, Sie haben meinen Brief erhalten?«
    Er legte den Kopf schief: vogelhaft, interessiert und ungerührt. »Ihren Brief?«
    Es war wie befürchtet: Man hatte sie hier nicht erwartet. Alma holte tief Luft und überlegte, wie sie sich ihm am besten erklären sollte. »Ich bin auf Besuch hier, Reverend Welles, und würde gern ein Weilchen bleiben – wie Sie ja sehen.« Sie deutete verlegen auf die Gepäckpyramide. »Ich interessiere mich sehr für Botanik und möchte Ihre hiesigen Pflanzen studieren. Sie selbst sind ja, soviel ich weiß, auch Naturforscher. Ich bin aus Philadelphia angereist, aus Amerika. Und außerdem möchte ich mir die Vanilleplantage ansehen, die meiner Familie gehört. Mein Vater war Henry Whittaker.«
    Der Reverend hob die buschigen weißen Brauen. »Sie sagten, Ihr Vater war Henry Whittaker?«, fragte er. »Ist der gute Mann etwa von uns gegangen?«
    »Leider ja, Reverend Welles. Vergangenes Jahr.«
    »Das tut mir leid zu hören. Möge der Herr ihn in Seine Obhut nehmen. Ich habe im Laufe der Jahre meinen eigenen kleinen Beitrag zur Unterstützung Ihres Vaters geleistet, nicht wahr. Ich habe ihm viele Pflanzenproben verkauft, für die er mich freundlicherweise fürstlich entlohnt hat. Ich bin Ihrem Vater ja nie begegnet, nicht wahr, ich habe immer mit seinem Abgesandten verhandelt, mit Mr Yancey. Aber er war stets ein höchst großzügiger und aufrechter Mann, Ihr Herr Vater. Wie oft in den vielen Jahren haben Mr Whittakers Zuwendungen unsere kleine Siedlung hier gerettet! Wir können ja nicht immer darauf zählen, dass die London Missionary Society uns beispringt. Aber auf Mr Yancey und Mr Whittaker war jederzeit Verlass, nicht wahr. Sagen Sie, kennen Sie Mr Yancey?«
    »Ich kenne ihn sehr gut, Reverend Welles. Ich kenne ihn schon mein Leben lang. Er hat meine Überfahrt hierher organisiert.«
    »Aber sicher! Aber ja! Dann wissen Sie ja selbst, was für ein guter Mensch er ist.«
    Alma konnte zwar kaum behaupten, dass sie Dick Yancey jemals unterstellt hätte, ein »guter Mensch« zu sein, nickte aber dennoch. Ebenso wenig hatte sie je gehört, dass man ihren Vater als großzügig, aufrecht und freundlich bezeichnete. An diese Attribute musste sie sich erst einmal gewöhnen. Sie erinnerte sich an einen Mann aus Philadelphia, der ihren Vater einmal »Raubtier auf zwei Beinen« genannt hatte. Dieser Mann wäre sicherlich überrascht, könnte er hören, wie sehr der Name des Raubtiers hier, mitten in der Südsee, geachtet wurde! Bei der Vorstellung musste Alma lächeln.
    »Ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen die Vanilleplantage zeigen zu dürfen«, fuhr Reverend Welles fort. »Ein Eingeborener hier aus der Siedlung hat die Verwaltung übernommen, seit Mr Pike von uns gegangen ist. Kannten Sie Ambrose Pike?«
    Almas Herz schlug einen Salto in ihrer Brust, doch nach außen hin verzog sie keine Miene. »Ja, ich kannte ihn ein wenig. Mein Vater und ich haben stets eng zusammengearbeitet, Reverend Welles, und es war unsere gemeinsame Entscheidung, Mr Pike nach Tahiti zu entsenden.«
    Bereits vor Monaten, noch ehe sie aus Philadelphia aufgebrochen war, hatte Alma beschlossen, niemandem auf Tahiti von ihrer Beziehung zu Ambrose zu erzählen. Sie hatte die ganze Reise als »Miss Whittaker« absolviert und aller Welt gestattet, sie als unverheiratet zu betrachten. In gewisser Weise war sie ja auch

Weitere Kostenlose Bücher