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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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unverheiratet. Kein Mensch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte konnte ihre Ehe mit Ambrose als vollwertige Ehe betrachten. Außerdem sah sie ja auch aus wie eine alte Jungfer – und fühlte sich so. Im Allgemeinen hielt Alma nichts davon, die Unwahrheit zu sagen, doch sie war hierhergekommen, um Ambrose Pikes Geschichte zu ergründen, und sie bezweifelte, dass noch jemand offen mit ihr sprechen würde, wenn man wüsste, dass sie mit Ambrose verheiratet gewesen war. Vorausgesetzt, Ambrose hatte ihre Bitte respektiert und niemandem von ihrer Ehe erzählt, konnte Alma sich nicht vorstellen, wie jemand jenseits der Tatsache, dass Mr Pike für ihren Vater gearbeitet hatte, eine Verbindung zwischen ihnen erahnen sollte. Sie selbst war einfach eine Naturforscherin auf Reisen sowie die Tochter eines bekannten botanischen Importhändlers und Pharmazeutik-Moguls; es durfte also im Grunde nicht erstaunen, dass sie aus eigenem Antrieb nach Tahiti gekommen war, um die dortigen Moose zu erforschen und die familieneigene Vanilleplantage zu besichtigen.
    »Nun, wir vermissen Mr Pike schmerzlich«, sagte Reverend Welles mit einem reizenden Lächeln. »Und ich vermisse ihn wohl am meisten. Sein Tod war ein schwerer Verlust für unsere kleine Siedlung, nicht wahr. Es wäre zu wünschen, dass alle Fremden, die jemals hier bei uns waren, den Eingeborenen ein so leuchtendes Vorbild gewesen wären wie Mr Pike. Er war den Verwaisten und Gestrauchelten ein Freund, allem Groll und allen Lastern abhold und dergleichen mehr, nicht wahr. Ein freundlicher Mensch war er, Ihr Mr Pike. Ich habe ihn bewundert, nicht wahr, denn ich spürte, dass er zu dem fähig war, wozu so viele Christenmenschen nicht fähig sind: den Eingeborenen vorzuleben, worin ein wahrhaft christliches Wesen besteht. Das Verhalten so manches durchreisenden Christen scheint oft wenig dazu angetan, nicht wahr, das Ansehen unserer Religion in den Augen dieser schlichten Gemüter zu fördern. Doch Mr Pike war der Inbegriff des Guten. Mehr noch, er besaß die Gabe, sich der Eingeborenen auf eine Weise anzunehmen, wie ich es bei anderen noch selten erlebt habe. Er sprach mit allen auf eine so klare und offene Art, nicht wahr. Leider ist das nicht immer der Fall, wenn jemand aus der Fremde auf unsere Insel kommt. Tahiti, nicht wahr, kann ein gefährliches Paradies sein. Für jemanden, der die … sagen wir einmal gestrengere moralische Umgebung der europäischen Gesellschaft kennt, bergen die Insel und ihre Menschen mitunter Versuchungen, denen nur schwer zu widerstehen ist. Mancher Besucher nutzt das aus, nicht wahr. Selbst mancher Missionar, das muss ich leider sagen, treibt Raubbau mit diesem Volk, einem kindlichen, unschuldigen Volk, nicht wahr, das wir jedoch mit Gottes Hilfe dazu zu erziehen versuchen, besser auf sich zu achten. Mr Pike war kein solcher Mensch – kein solcher Ausbeuter, nicht wahr.«
    Alma war sprachlos. Das war wohl die bemerkenswerteste Einstandsrede, die sie je gehört hatte (vielleicht mit Ausnahme ihrer ersten Begegnung mit Retta Snow). Reverend Welles hatte nicht einmal den Versuch gemacht zu ergründen, weshalb Alma Whittaker den ganzen Weg von Philadelphia hierher zurückgelegt hatte und nun auf einem Stapel Kisten und Koffer mitten in seiner Mission saß – stattdessen waren sie bereits mitten in der schönsten Unterhaltung über Ambrose Pike! Das hatte sie nicht erwartet. Und sie hatte auch nicht erwartet, ihren Ehemann mit seinem Koffer voller geheimer, wollüstiger Zeichnungen so leidenschaftlich als leuchtendes moralisches Vorbild präsentiert zu bekommen.
    »Ganz recht, Reverend Welles«, stotterte sie.
    Doch der Reverend hatte sogar noch mehr zu dem Thema zu sagen: »Und außerdem, nicht wahr, war mir Mr Pike auch als geschätzter Freund ans Herz gewachsen. Sie machen sich keinen Begriff davon, wie tröstlich es sein kann, an einem einsamen Ort wie diesem einen klugen Gefährten zu haben. Wahrhaftig, ich wäre bereit, viele Meilen zurückzulegen, um ihn noch einmal zu sehen und seine Hand noch einmal freundschaftlich zu umfassen, wenn das nur möglich wäre – doch ein solches Wunder wird sich niemals vollziehen, solange ich lebe, nicht wahr, denn Mr Pike wurde heimgerufen ins Himmelreich, Miss Whittaker, und wir bleiben allein zurück.«
    »Ganz recht, Reverend Welles«, wiederholte Alma. Was sollte sie sonst auch sagen?
    »Sie dürfen mich Bruder Welles nennen«, fuhr er fort, »wenn ich auch Schwester Whittaker zu Ihnen sagen

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