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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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darf?«
    »Selbstverständlich, Bruder Welles«, erwiderte Alma.
    »Ich würde Sie bitten, mit uns die Abendandacht zu halten, Schwester Whittaker. Wir sind ein wenig in Eile, nicht wahr. Wir werden heute später beginnen als üblich, denn ich habe den ganzen Tag auf der Korallenfarm verbracht, nicht wahr, und dabei die Zeit aus dem Blick verloren.«
    Ach, dachte Alma, die Korallenfarm! Natürlich! Er hatte sich den ganzen Tag am Korallenriff aufgehalten, nicht bei der Viehzucht.
    »Vielen Dank«, sagte sie. Dann fiel ihr Blick erneut auf das Gepäck, und sie zögerte. »Ich frage mich nur, ob es vielleicht einen sicheren Ort gibt, an dem ich derweil mein Gepäck lassen kann? In meinem Brief, Bruder Welles, hatte ich Sie gefragt, ob ich eine Zeitlang in Ihrer Siedlung bleiben darf. Wissen Sie, ich erforsche Moose, und ich hatte gehofft, mir die Insel genauer …« Sie brach ab. Der offene Blick seiner blauen Augen brachte sie ganz durcheinander.
    »Aber sicher!«, rief er. Sie wartete darauf, dass er fortfuhr, doch er sagte nichts weiter. Wie vorbehaltlos er doch war! Er hätte sie kaum bedenkenloser willkommen heißen können, wenn sie diese Zusammenkunft seit zehn Jahren geplant hätten.
    »Ich verfüge über eine ansehnliche Summe Geld«, sagte Alma unbehaglich, »die ich der Mission als Gegenleistung für eine Bleibe zur Verfügung stellen könnte …«
    »Aber sicher!«, wiederholte er munter.
    »Ich bin mir noch nicht schlüssig, wie lange ich bleiben werde … Aber ich werde mir alle Mühe geben, Ihnen nicht zur Last zu fallen … Ich erwarte auch keinerlei Komfort …« Wieder brach sie ab. Sie beantwortete Fragen, die er gar nicht gestellt hatte. Im Laufe der Zeit sollte sie feststellen, dass Reverend Welles niemandem jemals irgendwelche Fragen stellte, doch für den Moment erschien es ihr höchst ungewöhnlich.
    »Aber sicher!«, rief er ein drittes Mal. »Und nun halten Sie die Abendandacht mit uns, Schwester Whittaker.«
    »Aber sicher«, sagte Alma resignierend.
    Er führte sie fort von ihrem Gepäck – fort von allem, was sie besaß, von allem, was ihr noch etwas bedeutete – und marschierte auf die Kirche zu. Ihr blieb nichts weiter übrig, als ihm zu folgen.
    •
    Die Kapelle maß in der Länge kaum mehr als zwanzig Fuß. Sie war mit schlichten Bänken bestückt, und die Wände waren säuberlich weiß gestrichen. Vier Tranlampen sorgten für eine schummrige Beleuchtung. Alma zählte achtzehn Gläubige, allesamt tahitianische Eingeborene. Elf Frauen und sieben Männer. Soweit es ihr möglich war – sie wollte ja nicht unhöflich erscheinen –, musterte Alma die Gesichter aller Männer. Keiner von ihnen war der Knabe von Ambroses Zeichnungen. Die Männer trugen Hosen und Hemden nach Art der Europäer, die Frauen jene langen lockeren Nachthemden, die Alma seit ihrer Ankunft ständig sah. Die meisten Frauen trugen auch Hauben, nur eine – die Alma als die Frau mit der finsteren Miene erkannte, die die kleinen Jungen verscheucht hatte – trug einen Strohhut mit breiter Krempe, aufwendig mit frischen Blumen besteckt.
    Es folgte die merkwürdigste Messe, der Alma je beigewohnt hatte, und mit Abstand die kürzeste. Zunächst wurde ein Lied auf Tahitianisch gesungen, obwohl niemand ein Gesangbuch hatte. Die Musik klang fremd für Almas Ohren – dissonant und grell, mit verschiedenen Stimmen, die einander in undurchschaubaren Tonfolgen überlagerten, und begleitet nur von einer Trommel, die ein etwa vierzehnjähriger Junge schlug. Soweit Alma das beurteilen konnte, passte der Rhythmus der Trommel absolut nicht zum Lied. Die Stimmen der Frauen erhoben sich durchdringend schrill über den Gesang der Männer. Alma erkannte keine Melodie in diesen eigentümlichen Klängen. Sie lauschte auf irgendein vertrautes Wort – Jesus, Christus, Gott, Herr oder Jehova –, doch nichts kam ihr bekannt vor. Es war ihr unangenehm, so schweigend dazusitzen, während die Frauen ringsum aus voller Kehle sangen. Sie hatte nichts beizutragen.
    Als der Gesang verklungen war, erwartete Alma, dass Reverend Welles eine Predigt halten würde, doch er blieb sitzen und hielt den Kopf zum Gebet gesenkt. Er sah nicht einmal auf, als die üppige Tahitianerin mit den Blumen auf dem Hut sich erhob und an die schmucklose Kanzel trat. Sie las ein kurzes Stück auf Englisch aus dem Evangelium nach Matthäus. Es erstaunte Alma, dass die Frau des Lesens mächtig war, noch dazu auf Englisch. Obwohl sie nie viel für Gebete übriggehabt hatte,

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