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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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zurück. Sie versuchte es abermals. Wieder bellte der Hund, diesmal deutlich wütender. Sie sollte wohl keine Gelegenheit erhalten, sich zu bewaffnen.
    Nun denn. Sie war viel zu müde, um Angst zu haben.
    »Was hast du denn gegen mich einzuwenden?«, fragte sie den Hund mit matter Stimme.
    Als er ihre Stimme hörte, ließ der Hund einen ganzen Schwall von Einwendungen auf sie los und bellte so nachdrücklich, dass es seinen kleinen Körper fast vom Boden hob. Alma musterte ihn ungerührt. Es war mitten in der Nacht. Sie hatte kein Schloss an ihrer Tür. Sie hatte kein Kopfkissen. Alles, was sie besaß, war verschwunden, und sie war gezwungen, in ihrem schmutzigen Reisekleid zu schlafen, mit den im Saum eingenähten Münzen – ihrem einzigen Besitz, jetzt, da ihre Sachen gestohlen waren. Sie hatte keine andere Waffe zur Hand als ein Stück Bambusrohr, und nicht einmal danach konnte sie greifen. Ihr Haus war von Krabben umzingelt und von Eidechsen befallen. Und jetzt stand auch noch ein zorniger tahitianischer Hund bei ihr im Zimmer. Erschöpft, wie sie war, empfand sie fast so etwas wie Langeweile.
    »Verschwinde«, sagte sie.
    Der Hund bellte noch lauter. Alma gab auf. Sie wandte ihm den Rücken zu, drehte sich auf die Seite und versuchte von neuem, auf der dünnen Matratze eine halbwegs behagliche Position zu finden. Er bellte immer weiter. Seine Empörung kannte keine Grenzen. Dann fall mich meinetwegen an, dachte Alma. Zu den Klängen seiner Unmutsäußerungen schlief sie ein.
    Einige Stunden später erwachte sie erneut. Das Licht hatte sich verändert: Der Morgen dämmerte bereits. Diesmal saß ein kleiner Junge im Schneidersitz mitten im Raum und starrte sie an. Alma blinzelte und glaubte an Zauberei. Was für ein Magier mochte gekommen sein und den Hund in ein Kind verwandelt haben? Der Junge hatte langes Haar und ein ernstes Gesicht. Sie schätzte ihn auf etwa acht Jahre. Er trug kein Hemd, doch zu Almas Erleichterung befand er sich immerhin im Besitz einer Hose – auch wenn deren eines Bein nahezu komplett abgerissen war, so als hätte er sich aus einer Falle befreien und den Großteil des Kleidungsstücks zurücklassen müssen.
    Als hätte er nur darauf gewartet, dass sie endlich erwachte, sprang der Junge auf. Alma wich erschrocken zurück, doch dann sah sie, dass er etwas in der Hand hielt, mehr noch, dass er es ihr hinstreckte. Das Ding auf seiner Handfläche glitzerte im dämmrigen Morgenlicht. Es war etwas Schmales, Messingfarbenes. Der Junge legte es auf den Bettrand. Es war das Okular ihres Mikroskops.
    »Oh!«, rief sie aus.
    Beim Klang ihrer Stimme rannte der Junge davon. Das inexistente Etwas, das sich Tür schimpfte, fiel lautlos hinter ihm ins nicht vorhandene Schloss.
    Danach konnte Alma nicht wieder einschlafen, doch aufstehen wollte sie auch nicht. Sie war noch genauso müde wie in der Nacht zuvor. Wer würde wohl als Nächstes in ihrem Zimmer stehen? Was war das hier bloß für ein Ort? Irgendwie musste sie die Tür verbarrikadieren – doch womit? Vielleicht konnte sie nachts den kleinen Tisch davorstellen, doch der ließ sich ohne Schwierigkeiten fortschieben. Und was nützte es schon, die Tür zu verbarrikadieren, wenn die Fenster nichts weiter waren als Löcher in der Wand? Verdattert und voller Sehnsucht drehte sie das Messingokular in der Hand. Wo war der Rest ihres geliebten Mikroskops? Sie hätte dem Jungen nachlaufen, herausfinden sollen, wo er ihren ganzen Besitz versteckt hielt.
    Alma schloss die Augen und lauschte auf die fremdartigen Geräusche ringsum. Fast schien es ihr, als könnte sie die Morgendämmerung hören. Ganz sicher hörte sie die Wellen, die sich direkt vor ihrer Haustür brachen. Die Brandung war beunruhigend nahe. Sie hätte das Meer lieber etwas weiter weg gewusst. Alles erschien hier zu nah, zu bedrohlich. Auf dem Dach direkt über ihr hockte ein Vogel und ließ seinen wunderlichen Ruf hören. Ein wenig klang es wie: »Denk! Denk! Denk!«
    Als ob sie je etwas anderes täte!
    Schließlich fügte sich Alma in die Schlaflosigkeit und stand auf. Sie überlegte, wo sie wohl einen Abort finden sollte oder auch nur eine Stelle, die als Abort dienen konnte. Am Abend zuvor hatte sie sich einfach hinter dem fare hingehockt, doch sie hoffte, irgendwo in der Nähe eine komfortablere Möglichkeit zu finden. Als sie aus der Tür trat, wäre sie fast über etwas gestolpert. Sie sah zu Boden und erblickte – direkt auf ihrer Schwelle, soweit man von einer Schwelle sprechen

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