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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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konnte – Ambroses Koffer, der dort artig auf sie wartete, ungeöffnet und so fest verschnürt wie eh und je. Sie fiel auf die Knie, riss den Koffer auf und sah rasch den Inhalt durch. Alle Zeichnungen waren noch da.
    Am Strand, so weit ihr Auge in der Morgendämmerung reichte, war nichts und niemand zu sehen – kein Mann und keine Frau, kein kleiner Junge und kein Hund.
    »Denk!« , kreischte der Vogel über ihrem Kopf. »Denk!«

Kapitel 23
    Die Zeit hat die Eigenschaft, unaufhaltsam zu verstreichen, selbst in den abstrusesten, ungewohntesten Lebenslagen, und so verstrich auch für Alma die Zeit in der Matavai-Bucht. Langsam und zögernd begann sie, ihre neue Welt zu begreifen.
    Wie einst als Kind, als das Bewusstsein nach und nach in ihr erwachte, erforschte sie zunächst einmal ihr Haus. Das nahm nicht allzu viel Zeit in Anspruch, denn ihr winziges tahitianisches fare war ja nicht White Acre. Es gab dort nur das eine Zimmer, die halbherzige Tür, die drei leeren Fensterhöhlen, die grob zusammengezimmerten Möbel und das strohgedeckte Dach, in dem die Eidechsen hausten. An jenem ersten Morgen suchte Alma das Haus aufs Gründlichste nach Spuren von Ambrose ab, doch da war nichts. Noch ehe sie sich auf die (vollkommen fruchtlose) Suche nach ihrem verlorenen Gepäck begab, hielt sie Ausschau nach Hinweisen auf ihn. Aber was hatte sie sich bloß erhofft? Eine Botschaft für sie, an die Wand geschrieben? Weitere verborgene Zeichnungen? Ein Bündel Briefe vielleicht oder ein Tagebuch, das endlich etwas anderes offenbarte als undurchschaubare, mystische Sehnsüchte? Doch es war nichts von ihm zu finden.
    Ergeben borgte Alma sich einen Besen von Schwester Manu und fegte die Spinnweben von den Wänden. Das alte trockene Gras auf dem Boden ersetzte sie durch frisches trockenes Gras. Sie schüttelte die Matratze auf und fand sich damit ab, dass dieses fare nun ihr gehörte. Auch fand sie sich, so wie der Reverend es ihr geraten hatte, mit der unerfreulichen Tatsache ab, dass ihre Habseligkeiten entweder irgendwann wieder auftauchen würden oder eben nicht und dass sie darauf keinen – nicht den geringsten – Einfluss hatte. So bestürzend dieser Umstand auch war, schien er doch merkwürdig passend und sogar gerechtfertigt. Es kam einer sofortigen Buße gleich, alles verloren zu haben, was ihr wertvoll war. In gewisser Weise fühlte sie sich Ambrose dadurch näher. Sie waren beide nach Tahiti gekommen, um dort alles zu verlieren.
    Und so machte Alma sich daran, in ihrem einzigen verbliebenen Kleid ihre Umgebung zu erkunden.
    Hinter dem Haus befand sich ein sogenannter himaa , ein offener Ofen, auf dem sie schon bald Wasser erhitzen und eine bescheidene Anzahl Speisen zubereiten konnte. Schwester Manu brachte ihr bei, wie man mit den einheimischen Früchten und Gemüsen verfuhr. Alma vermutete zwar, dass die Ergebnisse ihrer Kochversuche vielleicht nicht ganz so sehr nach Ruß und Sand schmecken sollten, doch sie blieb hartnäckig und war stolz darauf, sich selbständig ernähren zu können. (Autotroph war sie geworden, dachte sie mit wehmütigem Lächeln; wie stolz Retta Snow auf sie gewesen wäre!) Sie besaß ein klägliches Fleckchen Garten, mit dem jedoch wenig anzufangen war; Ambrose hatte sein Haus auf heißen Sand gebaut, somit war jeder Kultivierungsversuch zum Scheitern verurteilt. Auch gegen die Eidechsen ließ sich nichts unternehmen: Sie glitten die ganze Nacht über die Deckenbalken. Immerhin trugen sie dazu bei, die Mücken zu dezimieren, und so bemühte sich Alma, sie nicht weiter zu beachten. Sie wusste, dass sie ihr nichts Böses wollten, trotzdem wäre sie gern sicher gewesen, dass sie nachts nicht auf ihr herumkrochen. Sie konnte von Glück sagen, dass es keine Schlangen waren. Auf Tahiti gab es dankenswerterweise keine Schlangen.
    Krabben allerdings gab es, doch Alma lernte bald, sich nicht an diesen Kreaturen zu stören, die am Strand in jeder Größe um ihre Füße wuselten. Auch sie wollten Alma nichts Böses. Sobald sie ihrer mit den beweglichen Stielaugen ansichtig wurden, eilten sie in heller, scherenklappernder Panik in die andere Richtung davon. Alma gewöhnte sich an, barfuß zu laufen, nachdem sie gemerkt hatte, wie viel ungefährlicher das war. Für Schuhe war es auf Tahiti einfach zu heiß, zu feucht, zu sandig und zu glitschig. Glücklicherweise war die Umgebung nackten Füßen wohlgesinnt: Es gab nicht eine dornige Pflanze auf der Insel, und die meisten Wege bestanden aus Sand oder

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