Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
glattem Stein.
Alma lernte Gestalt und Charakter des Strandes kennen und die allgemeinen Gewohnheiten der Gezeiten. Obgleich sie nicht schwimmen konnte, wagte sie sich jede Woche ein Stückchen weiter in das träge, dunkle, wogende Wasser der Matavai-Bucht hinein. Sie war dankbar für das Riff, das die Brandung in der Bucht einigermaßen eindämmte.
Sie lernte, jeden Morgen mit den anderen Frauen aus der Siedlung, die alle ebenso stämmig und kräftig waren wie sie, im Fluss zu baden. Die Tahitianerinnen achteten peinlichst auf Sauberkeit und wuschen sich jeden Tag das Haar und den ganzen Körper mit dem schäumenden Saft der Ingwerpflanzen, die am Ufer wuchsen. Bald fragte sich Alma, die an tagtägliches Baden nicht gewöhnt war, weshalb sie es nicht schon ihr Leben lang so gehalten hatte. Sie lernte auch, den kleinen Jungen, die in Grüppchen am Flussufer standen und über die nackten Frauen kicherten, keine weitere Beachtung zu schenken. Es war ohnehin nichts dagegen zu tun; es gab keinen Zeitpunkt, weder tagsüber noch bei Nacht, zu dem man vor den Kindern sicher war.
Die Tahitianerinnen hatten nichts gegen das Gekicher der Kinder. Viel mehr Sorge bereitete ihnen offenbar Almas krauses, widerspenstiges, farbloses Haar, das sie ebenso mitleidig wie betroffen begutachteten. Sie hatten alle so wunderschönes Haar, das ihnen in schwarzen Wellen den Rücken hinabwallte, und es schmerzte sie zutiefst, dass Alma dieses großartige Merkmal nicht besaß. Auch Alma schmerzte das zutiefst. Eine Entschuldigung für ihr Haar gehörte zu den allerersten Sätzen, die sie auf Tahitianisch formulieren konnte. Sie fragte sich, ob es wohl irgendwo auf Erden einen Ort gab, an dem man ihr Haar nicht als Tragödie betrachtete. Wohl kaum, vermutete sie.
Alma eignete sich so viel Tahitianisch an, wie sie eben konnte, und lernte von jedem, der auch nur ein paar Worte mit ihr wechselte. Die Einheimischen erwiesen sich als freundlich und hilfsbereit und ermunterten Alma in ihren Bemühungen, als wäre es eine Art Spiel. Anfangs versuchte sie, die alltäglichen Dinge rings um die Matavai-Bucht zu benennen: die Bäume, die Eidechsen, die Fische, den Himmel und die reizenden kleinen Tauben, die uuairo genannt wurden (ein Wort, das haargenau so klang wie ihr zarter, perlender Ruf). Sobald sie dazu in der Lage war, wandte sie sich der Grammatik zu. Die Bewohner der Missionssiedlung sprachen unterschiedlich gut Englisch – manche beherrschten es fließend, andere waren einfach nur kreativ –, doch Alma, ganz die Sprachgelehrte, war bestrebt, ihre Gespräche so weit wie möglich auf Tahitianisch zu führen.
Allein, das Tahitianische war, wie sie feststellen musste, keine leichte Sprache. Für Almas Ohren klang es eher nach Vogelgezwitscher als nach Sprache, und sie war nicht musikalisch genug, um es richtig zu beherrschen. Außerdem kam sie zu dem Schluss, dass das Tahitianische auch keine verlässliche Sprache war. Es besaß keine unverbrüchlichen Gebote wie das Lateinische oder das Griechische. Und die Bewohner der Matavai-Bucht verfuhren besonders spielerisch und hinterlistig mit ihren Wörtern: Sie änderten sie von Tag zu Tag. Bisweilen mischten sie auch ein wenig Englisch oder Französisch hinein und schufen phantasievolle neue Ausdrücke. Die Tahitianer hatten eine Vorliebe für komplizierte Wortspiele, die Alma allenfalls dann verstanden hätte, wenn schon ihre Ururgroßeltern hier geboren worden wären. Zudem sprachen die Leute aus der Matavai-Bucht auch noch ganz anders als die Leute im nur sieben Meilen entfernten Papeete, und die Leute dort sprachen wiederum anders als die Tahitianer in Taravao oder in Teahupo. Man konnte nicht darauf vertrauen, dass derselbe Satz auf der einen Seite der Insel dasselbe bedeutete wie auf der anderen oder dass er heute noch dasselbe bedeutete wie gestern.
Um das Wesen dieses eigenartigen Ortes zu ergründen, studierte Alma sorgfältig die Menschen ringsum. Schwester Manu war besonders wichtig, denn sie kümmerte sich nicht nur um die Schweine, sondern beaufsichtigte das ganze Dorf. Sie war eine gestrenge Zeremonienmeisterin und achtete akribisch auf Etikette und Entgleisungen. So sehr die Missionsgemeinde Reverend Welles liebte, so sehr fürchtete sie Schwester Manu. Manu – ihr Name bedeutete »Vögelchen« – war ebenso groß wie Alma und dabei so muskulös wie ein Mann. Sie hätte Alma auf dem Rücken davontragen können. Es gab wahrhaftig nicht allzu viele Frauen, von denen man dies
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