Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
behaupten konnte.
Schwester Manu trug stets ihren breitkrempigen Strohhut, der jeden Tag mit neuen frischen Blumen geschmückt wurde, doch beim Baden im Fluss hatte Alma gesehen, dass Manus Stirn von einem Geflecht aus hässlichen weißen Narben überzogen war. Zwei oder drei der anderen älteren Frauen trugen ähnlich rätselhafte Male auf der Stirn, doch Manu war noch auf andere Weise gezeichnet: An beiden Händen fehlte ihr das letzte Glied des kleinen Fingers. Alma fand diese Verletzung höchst sonderbar, so ordentlich und symmetrisch. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie man es fertigbrachte, sich beider Fingerglieder so säuberlich zu entledigen. Zu fragen wagte sie nicht.
Jeden Morgen und jeden Abend läutete Schwester Manu die Glocke zur Andacht, und die Dorfbewohner – achtzehn an der Zahl – kamen pflichtschuldigst herbei. Auch Alma gab sich Mühe, die Messen in der Matavai-Bucht niemals zu versäumen, denn das hätte Schwester Manu verstimmt, und Alma war auf ihr Wohlwollen angewiesen. Zudem hatte sie festgestellt, dass diese Messen sich ohne viel Aufwand überstehen ließen. Sie dauerten selten länger als eine Viertelstunde, und die Predigten, die Schwester Manu in ihrem spröden Englisch hielt, waren stets kurzweilig. Wären die lutheranischen Zusammenkünfte in Philadelphia ebenso schlicht und unterhaltsam gewesen, dachte Alma, dann wäre sie womöglich eine bessere Lutheranerin geworden. Sie lauschte aufmerksam, und schließlich gelang es ihr, einzelne Wörter und Phrasen aus den kompakten tahitianischen Gesängen herauszuhören.
Te rima atua : die Hand Gottes.
Te mau pure atua : das Volk Gottes.
Was nun den kleinen Jungen betraf, der Alma in jener ersten Nacht das Okular ihres Mikroskops zurückgebracht hatte, so fand sie bald heraus, dass er zu einer Bande von fünf Knirpsen gehörte, die durch die Missionssiedlung stromerten und offenbar keine andere Aufgabe hatten, als so lange unermüdlich zu spielen, bis sie erschöpft in den Sand fielen und – kleinen Hunden gleich – einfach schliefen, wo sie gerade lagen. Alma brauchte mehrere Wochen, bis sie die Jungen auseinanderhalten konnte. Derjenige, der in ihr Zimmer gekommen war und ihr das Okular überreicht hatte, hieß Hiro. Er hatte das längste Haar und genoss in der Bande besonderes Ansehen. (Später erfuhr Alma, dass Hiro in der tahitianischen Mythologie der Name des Königs der Diebe war. Es erheiterte sie, dass ihre erste Begegnung mit diesem kleinen König der Diebe aus der Matavai-Bucht darin bestanden hatte, dass er ihr höchstpersönlich etwas zurückbrachte.) Hiros Bruder war ein Junge namens Makea, obwohl sie möglicherweise gar keine leiblichen Brüder waren. Sie behaupteten nämlich auch, die Brüder von Papeiha und Tinomana sowie eines weiteren Makea zu sein, doch das erschien Alma denkbar unwahrscheinlich, da alle fünf Jungen gleich alt zu sein schienen und zwei von ihnen denselben Namen trugen. Sie konnte beim besten Willen nicht sagen, wer ihre Eltern waren. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass sich jemand anders um diese Kinder kümmerte als die Kinder selbst.
Es gab auch noch andere Kinder in der Matavai-Bucht, doch die gingen das Leben um einiges ernsthafter an als diese fünf Knirpse, die Alma für sich »Hiro und Konsorten« nannte. Diese anderen Kinder besuchten jeden Nachmittag die Missionsschule, wo sie Englisch und Lesen lernten, selbst wenn ihre Eltern nicht in der Siedlung des Reverend Welles wohnten. Es waren kleine Jungen mit ordentlich kurzgeschnittenem Haar und kleine Mädchen mit wunderschönen Zöpfen, langen Kleidern und einem strahlenden Lächeln. Sie wurden in der Kirche unterrichtet, und zwar von der fröhlichen jungen Frau, die Alma am ersten Tag zugerufen hatte, dass man hier Englisch spreche. Sie hieß Etini – »weiße Blumen am Wegesrand« –, und sie sprach fließend Englisch, mit einem klaren britischen Akzent. Es hieß, sie sei als Kind von der Frau des Reverend Welles persönlich unterrichtet worden, und heute galt Etini als beste Englischlehrerin auf der ganzen Insel.
Alma war beeindruckt von den adretten, eifrigen Schulkindern, doch die fünf wilden, ungebildeten Jungen, Hiro und Konsorten, faszinierten sie ungleich mehr. Nie zuvor hatte sie Kinder erlebt, die so frei waren wie Hiro, Makea, Papeiha, Tinomana und der zweite Makea. Frei und ledig waren sie, wie es in der Bibel hieß, und fröhlich noch dazu. Wie mythologische Mischwesen aus Fisch, Vogel und Affe schienen sie
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