Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
gleichermaßen im Meer, in den Bäumen und auf dem Boden zu Hause. Sie baumelten an Lianen und ließen sich unter furchtlosem Juchzen in den Fluss fallen. Sie paddelten auf kleinen Holzbrettern bis zum Riff hinaus, und dort – unfassbar! – stellten sie sich auf diese Bretter und segelten aufrecht über die hohen, schäumenden, heranbrandenden Wellen. Sie nannten diesen Zeitvertreib faheei , und Alma konnte sich kaum ausmalen, was sie an Wendigkeit und Zuversicht besitzen mussten, um so behände auf der Brandung zu reiten. Zurück am Strand, balgten und knufften sie sich unermüdlich. Sie bastelten sich Stelzen, stäubten sich am ganzen Körper mit einer Art weißem Puder ein, hielten sich mit kleinen Zweigen die Lider offen und jagten einander als riesige, ungestalte Monster über den Sand. Sie ließen einen uo steigen, einen Drachen aus getrockneten Palmwedeln. In ruhigeren Augenblicken spielten sie eine Art Astragaloi, wobei sie statt der Knöchelchen kleine Steine verwendeten. Sie hielten sich ein wechselndes Gefolge aus Katzen, Hunden, Papageien und sogar Aalen – Letztere wurden in mit Steinen abgetrennte Wassergehege gesperrt, und wenn die Jungs pfiffen, reckten sie ihre schaurigen Köpfe aus dem Wasser, um sich mit Obststückchen füttern zu lassen. Mitunter verspeisten Hiro und Konsorten ihre Haustiere auch, häuteten sie und brieten sie an improvisierten Spießen. Es war hier ganz und gar üblich, Hunde zu essen. Reverend Welles erklärte Alma, tahitianisches Hundefleisch sei mindestens so schmackhaft wie englisches Lamm – allerdings hatte er seit geraumer Zeit kein englisches Lamm mehr zu sich genommen, und so traute sie seiner Aussage nicht recht. Sie konnte nur hoffen, dass niemand Roger verspeisen würde.
Denn Roger, so hatte Alma herausgefunden, war der Name des kleinen rostroten Hundes, der sie in der ersten Nacht in ihrem fare besucht hatte. Roger gehörte offensichtlich niemandem, anscheinend hatte er jedoch eine gewisse Zuneigung zu Ambrose gefasst, dem er auch seinen ebenso ehrenwerten wie handfesten Namen verdankte. Das erfuhr Alma von Schwester Etini, verbunden mit dem irritierenden Ratschlag: »Roger wird Sie niemals beißen, Schwester Whittaker, solange Sie nicht versuchen, ihn zu füttern.«
Während der ersten Wochen ihres Aufenthalts kam Roger Nacht für Nacht in Almas Zimmer, um sie mit großer Inbrunst anzubellen. Lange Zeit bekam sie ihn bei Tageslicht nie auch nur zu sehen. Doch nach und nach und sichtlich gegen seinen Willen verflog seine Empörung, und seine Wutanfälle nahmen ab. Eines Morgens erwachte Alma und fand Roger schlafend auf dem Boden neben ihrem Bett; er musste in der Nacht zuvor ganz ohne Bellen ins Haus gekommen sein. Eine bemerkenswerte Entwicklung. Als er hörte, wie Alma sich aufsetzte, knurrte Roger und lief davon, doch in der folgenden Nacht kam er wieder und schwieg fortan. Im Laufe der Zeit versuchte sie tatsächlich einmal, ihn zu füttern, und er versuchte tatsächlich, sie zu beißen. Doch jenseits dessen kamen sie gut miteinander aus. Roger wurde zwar nicht unbedingt zutraulich, doch er schien auch nicht mehr das Verlangen zu hegen, Alma die Kehle vom Körper zu trennen, und das war immerhin ein Fortschritt.
Als Hund bot Roger einen erbärmlichen Anblick. Nicht nur war er rostrot gefleckt, besaß ein schiefes Maul und humpelte, nein, offenbar hatte sich im Lauf der Jahre jemand hingebungsvoll der Aufgabe gewidmet, ihm größere Teile des Schwanzes abzuknabbern. Zudem war er tuapu’u : bucklig. Trotz alledem begann Alma, die Gegenwart des Hundes zu schätzen. Ambrose musste ihn schließlich aus irgendeinem Grund geliebt haben, und dieser Gedanke faszinierte sie. Stundenlang betrachtete sie den Hund und überlegte, was er wohl über ihren Ehemann wusste. Mit der Zeit wurde ihr seine Gesellschaft ein Trost. Zwar konnte sie sich nicht unbedingt rühmen, dass Roger ihr Schutz und Treue angedeihen ließ, doch immerhin schien er sich dem Haus in gewisser Weise verbunden zu fühlen. Zu wissen, dass er kommen würde, nahm ihr ein wenig von der Angst, des Nachts allein einzuschlafen.
Das war auch gut so, denn Alma hatte längst jede Hoffnung auf ein gewisses Maß an Sicherheit und Abgeschiedenheit fahren lassen. Jeder Versuch, Grenzen um ihr Heim und ihre wenigen verbliebenen Habseligkeiten zu ziehen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Erwachsene, Kinder, die Tierwelt, das Wetter – alles und jeder in der ganzen Matavai-Bucht fühlte sich zu
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