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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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jeglicher Tages- oder Nachtzeit und aus welchem Anlass auch immer bemüßigt, in Almas fare vorbeizuschauen. Man musste den Besuchern allerdings zugutehalten, dass sie keineswegs immer mit leeren Händen kamen. Mit der Zeit kehrten Teile von Almas Besitztümern stück- und fragmentweise zu ihr zurück. Sie wusste nicht, wer ihr die Gegenstände zurückbrachte. Nie sah sie, wie es geschah. Es war, als würde die Insel selbst nach und nach Teile ihres verschlungenen Gepäcks wieder ausspeien.
    In der ersten Woche erhielt sie etwas Papier zurück, einen Unterrock, ein Arzneifläschchen, einen Ballen Stoff, ein Röllchen Zwirn und eine Bürste. Wenn ich nur lang genug warte, dachte sie sich, dann bekomme ich alles wieder. Doch das erwies sich als Trugschluss, denn es konnte ebenso gut passieren, dass bereits aufgetauchte Dinge wieder verschwanden. Immerhin bekam sie ihr zweites Reisekleid zurück – die in den Saum eingenähten Münzen waren zu ihrem Erstaunen unangetastet –, und das war ein Segen, auch wenn ihre Hauben zum Wechseln allesamt verschwunden blieben. Auch ein Teil ihres Schreibpapiers, wenngleich nicht allzu viel, fand den Weg zu ihr zurück. Ihren Arzneikasten sah sie nicht wieder, dafür standen plötzlich einige Botanisiergläser ordentlich aufgereiht auf ihrer Schwelle. Eines Morgens stellte sie fest, dass ihr ein Schuh fehlte – bloß einer, auch wenn sie sich beileibe nicht vorstellen konnte, was jemand mit einem einzelnen Schuh anzufangen gedachte –, man ihr aber zugleich einen sehr nützlichen Aquarellkasten zurückerstattet hatte. Ein andermal bekam sie das Unterteil ihres kostbaren Mikroskops zurück, nur um dann festzustellen, dass dafür das Okular erneut entwendet worden war. In ihrem Haus herrschte eine Art ständiger Gezeitenstrom, Ebbe und Flut im Wechsel, die das Strandgut ihres früheren Lebens entweder anschwemmten oder mit sich fort nahmen. Ihr blieb nichts weiter übrig, als sich darein zu fügen und sich jeden Tag aufs Neue darüber zu wundern, was sie vorfand und verlor und kurz darauf wieder vorfand und verlor.
    Ambroses Koffer allerdings wurde ihr nicht wieder entwendet. Gleich an dem Morgen, als sie ihn vor ihrer Tür fand, hatte Alma den Koffer auf den Tisch in ihrem Häuschen gelegt, und dort war er geblieben – so unberührt, als wachte ein unsichtbarer polynesischer Minotaurus über ihn. Mehr noch: Es verschwand niemals auch nur eine Zeichnung des Knaben. Alma konnte nicht sagen, weshalb gerade dieser Koffer solche Wertschätzung erfuhr, wo doch in der Matavai-Bucht sonst nichts sicher war. Jemanden zu fragen: Warum rührt ihr diesen Koffer nicht an und stehlt keines der Bilder? – das hätte sie nie gewagt. Wie hätte sie auch erklären sollen, was es mit den Zeichnungen auf sich hatte und warum der Koffer ihr so viel bedeutete? Ihr blieb nichts weiter übrig, als zu schweigen und es nicht zu begreifen.
    •
    In Gedanken war Alma stets bei Ambrose. Er hatte auf Tahiti keinerlei Spuren hinterlassen, bis auf die diffuse Zuneigung, die alle für ihn hegten, und doch suchte sie unermüdlich nach Hinweisen. Was immer sie tat, was immer sie anfing, stets war da die Frage: Hat er das auch getan? Wie hatte er seine Zeit hier verbracht? Was hatte er über sein kleines Haus gedacht, über das eigentümliche Essen, über die komplizierte Sprache, das ewig gleiche Meer, über Hiro und Konsorten? Hatte er Tahiti geliebt? Oder war es ihm, so wie Alma, viel zu fremd und absonderlich vorgekommen, um es ins Herz zu schließen? Hatte auch ihn die Sonne verbrannt, so wie sie Alma am schwarzen Strand verbrannte? Hatte er die kühlen Veilchen und die sanften Drosseln daheim vermisst, so wie Alma es tat, während sie zugleich den üppigen Hibiskus und die lauten grünen Papageien bewunderte? War er bedrückt und melancholisch gewesen oder hocherfreut, sich im Garten Eden wiederzufinden? Hatte er während seiner Zeit hier überhaupt je an Alma gedacht? Oder hatte er sie rasch vergessen in seiner Erleichterung, von ihrem beängstigenden Begehren befreit zu sein? Hatte er sie vergessen, weil er sich in den Knaben verliebt hatte? Und was den Knaben anging: Wo steckte er inzwischen? Er war ja im Grunde kein Knabe, das musste Alma sich eingestehen, erst recht, wenn sie die Zeichnungen abermals betrachtete. Die Gestalt auf den Bildern war eher ein junger Mann an der Schwelle zum Erwachsensein. Jetzt, Jahre später, musste er längst ein ausgewachsener Mann sein. Doch in Almas Kopf blieb er immer

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