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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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idyllischer Ort, man überblickte die ganze Matavai-Bucht und das glitzernde offene Meer dahinter. Alma hatte befürchtet, angesichts des leibhaftigen Grabes ihre Gefühle nicht mehr beherrschen zu können, doch nun blieb sie kühl und distanziert. Sie nahm hier nichts von Ambrose wahr. Sie konnte nicht glauben, dass er dort in der Erde begraben lag. Sie dachte daran, wie er früher immer ausgestreckt im Gras lag mit seinen wunderbaren langen Beinen und ihr von Mirakeln und Mysterien erzählte, während sie ihre Moose studierte. Ihr schien, als existierte in Philadelphia und in ihrer Erinnerung sehr viel mehr von ihm als hier. Sie vermochte sich einfach nicht vorzustellen, dass dort zu ihren Füßen seine Knochen vermoderten. Ambrose gehörte nicht der Erde an, er gehörte der Luft. Er war ja schon zu Lebzeiten kaum dem Irdischen verhaftet, dachte sie. Wie sollte er da jetzt in der Erde sein?
    »Wir hatten nicht genug Holz für einen Sarg übrig«, sagte der Reverend, »deshalb haben wir Mr Pike in Tücher gewickelt und ihn im Kiel eines alten Kanus bestattet, wie es auf der Insel durchaus Brauch ist. Zimmern ist hier ein mühsames Handwerk, nicht wahr, es fehlt an den geeigneten Werkzeugen, und wenn die Eingeborenen einmal über Bauholz verfügen, verschwenden sie es ungern an eine Bestattung, deshalb behelfen wir uns mit alten Kanus. Aber unsere Eingeborenen haben große Rücksicht auf Mr Pikes christlichen Glauben an den Tag gelegt. Sie haben sein Grab nach Osten ausgerichtet, nicht wahr – dem Sonnenaufgang zugewandt, so wie alle christlichen Gotteshäuser. Wie ich bereits sagte, waren sie ihm alle außerordentlich zugetan. Ich bete, dass er glücklich gestorben ist. Er war der Beste unter den Menschen.«
    »Schien er denn glücklich, als er hier war, Bruder Welles?«
    »Er fand hier auf der Insel vieles, was ihn erfreute, das geht uns allen so. Ich bin überzeugt, er hätte sich mehr Orchideen gewünscht, nicht wahr! Ich sagte Ihnen ja bereits, dass Tahiti auch enttäuschen kann, wenn man sich der Naturgeschichte verschrieben hat.«
    Alma wagte sich ein wenig weiter vor. »Schien Ihnen Mr Pike jemals bedrückt zu sein?«
    »Die Menschen kommen aus vielfältigen Gründen auf diese Insel, Schwester Whittaker. Meine Frau pflegte immer zu sagen, diese eifernden Fremden werden hier einfach an Land gespült, und oft wissen sie gar nicht, wo sie da gelandet sind! Manche präsentieren sich als Inbegriff des Gentleman, doch später findet man heraus, dass sie in ihrem eigenen Land Strafgefangene waren. Und umgekehrt, nicht wahr, gibt es solche, die in ihrem europäischen Leben der Inbegriff des Gentleman waren und sich nun, da sie hier sind, wie die Strafgefangenen gebärden! Man kann nie wissen, wie es wirklich um das Herz eines Mitmenschen steht.«
    Das war keine Antwort auf ihre Frage.
    Und Ambrose? , wollte sie weiterfragen. Wie stand es um sein Herz?
    Doch sie schwieg.
    Dann sagte Reverend Welles mit gewohnt vergnügter Stimme: »Sie finden hier auch die Gräber meiner Töchter, dort bei dem Mäuerchen auf der anderen Seite.«
    Diese Äußerung verschlug Alma vollends die Sprache. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass der Reverend Töchter hatte, geschweige denn, dass sie hier gestorben waren.
    »Es sind nur kleine Gräber, nicht wahr«, fuhr er fort, »denn die Mädchen haben nicht lange gelebt. Keines von ihnen hat das erste Lebensjahr vollendet. Zur Linken liegen Helen, Eleanor und Laura. Penelope und Theodosia ruhen gleich neben ihnen, zur Rechten.«
    Die fünf Grabsteine waren winzig, nicht einmal backsteingroß. Alma fand keine Worte, die Trost gespendet hätten. Nie zuvor hatte sie etwas so Trauriges gesehen.
    Reverend Welles blickte in ihr betroffenes Gesicht und lächelte freundlich. »Es bleibt ein Trost. Christina, ihre jüngste Schwester, ist am Leben, nicht wahr. Der Herr hat uns ein Mädchen geschenkt, das wir ins Leben führen durften, und sie bleibt uns bis heute erhalten. Sie lebt in Cornwall und ist dort selbst Mutter von drei kleinen Söhnen. Mrs Welles ist bei ihr. Meine Frau wohnt bei unserem lebenden Kind, nicht wahr, während ich hier verweile, um den Verschiedenen nahe zu sein.«
    Sein Blick schweifte über Almas Schulter. »Ach, sehen Sie nur!«, rief er. »Der Jasmin blüht! Wir werden ein paar Zweige pflücken und sie Schwester Manu mitbringen. Dann kann sie zur heutigen Abendandacht ihren Hut neu schmücken. Wie sie sich freuen wird!«
    •
    Reverend Welles blieb Alma ein ewiges Rätsel.

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