Das zweite Königreich
»Cædmon!«
»Philip!«
Es war sein Gefährte und Leidensgenosse aus den Tagen in Rouen. Ein Jahr hatten sie gemeinsam als Jehan de Bellêmes Schüler verbracht, ehe Philip auf das Gut seiner Familie heimgekehrt war. »Was verschlägt dich hierher?« fragte Cædmon.
»Das weißt du nicht? Mein Vater ist Befehlshaber dieser Burg.«
Cædmon nickte und wies dann wieder auf die Belagerungsleiter. »Jetzt.«
Jeder packte sie an einer Seite, und sie stemmten. Beinah fürchtete Cædmon schon, sie hätten zu lange gewartet, zuviel Gewicht laste auf dem oberen Stück, um sie noch umstoßen zu können. Doch mit einer letzten Anstrengung kippten sie sie über den kritischen Punkt, rangenum Gleichgewicht, damit sie nicht hinterherpurzelten, und die schemenhaften, kletternden Gestalten stürzten schreiend in die Tiefe.
»Gott, woher haben sie die Leitern? Übers Meer mitgebracht?« fragte Philip. Er keuchte ein wenig.
Cædmon schüttelte den Kopf. »Ich würde vermuten, die Leitern und das andere schwere Gerät hat der König von Schottland gestiftet …« »Gott verdamme seine Seele. Er hat König William Treue geschworen.«
»Ja. Wie Earl Gospatrick. Sie sind allesamt Verräter.«
Er sah auf das brennende York hinaus. Auch die Stadt hatte den König verraten, und das jetzt schon zum zweitenmal. Störrisch und unbelehrbar waren sie, die Northumbrier, aber er bedauerte sie trotzdem, ganz gleich ob Dänen oder Engländer. Und er mußte daran denken, was Aliesa ihm vor all den Jahren gesagt hatte. Vor allem die Frauen, Kinder und Greise würden darunter zu leiden haben, daß Hab und Gut und das Dach über ihren Köpfen in Flammen aufgingen. Er konnte nur beten, daß Erik seine Familie rechtzeitig aus der Stadt gebracht hatte. Seit die ersten Brände aufgeflammt waren, hatte er sich pausenlos vor Augen geführt, wie gerissen Erik war, welch vorzügliche Informationsquellen er besaß, daß er sich und die Seinen ganz gewiß rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte. Aber die quälende Sorge um Hyld begleitete ihn trotzdem auf Schritt und Tritt.
»Ist der Ausfalltrupp zurück?« fragte er.
Philip verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Kein einziger ist zurückgekehrt. Die verfluchten Dänen haben sie samt und sonders abgeschlachtet.«
Cædmon nickte. »Morgen werden wir sie schmerzlich vermissen«, prophezeite er.
»Willst du sagen, mein Vater hat einen Fehler gemacht, indem er den Ausfall befahl?« fragte Philip, und Cædmon glaubte, einen drohenden Unterton in seiner Stimme zu hören.
»Ich sage nur, daß uns die Männer morgen hier fehlen werden. Wir sind zu wenige, um die Burg noch lange zu halten.«
Philip nickte unwillig und spähte vorsichtig über die Palisaden. »Werden sie denn gar nicht müde?« murmelte er.
Wie zur Antwort erscholl plötzlich ein wahrhaft ohrenbetäubendes Dröhnen, das Zaun und Brustwehr erzittern ließ.
Die beiden jungen Männer sahen sich mit schreckgeweiteten Augenan. »Ein Rammbock …«, sagte Philip ausdruckslos, als habe irgendwer gefragt, als wisse nicht jeder einzelne Mann auf der Brustwehr, woher das Donnern kam.
»Klingt nach einer hundertjährigen schottischen Eiche«, bemerkte Cædmon. »Falls es so etwas Beständiges wie Eichen in Schottland überhaupt gibt.«
Er sagte es beiläufig und war dankbar, daß er seine Stimme so gut unter Kontrolle hatte, aber in Wahrheit verspürte er Todesangst.
Er legte die Hand an den Gürtel und vergewisserte sich, daß er die Schleuder nicht verloren hatte. »Hoffentlich kommt der König bald …«
Noch ehe sie die Stadt verlassen hatten, war Erik froh, daß Hyld auf den genialen Einfall gekommen war, sich selbst und Irmingard als Knaben zu verkleiden. Sie hatte sich die Brust so mörderisch eng gewickelt, daß Erik nur vom Zusehen schmerzlich zusammenzuckte, hatte sich sein zweites Paar Hosen und Übergewand geborgt, das ihr viel zu weit war, so daß es ihre immer noch verräterisch frauliche Figur verbarg. Die zwölfjährige Irmingard trug Kleider ihres um ein Jahr älteren Bruders. Ihre langen Haare hatten sie geflochten, aufgesteckt und unter Kapuzen verborgen und ihre rosige Mädchenhaut mit einer Handvoll Ruß geschwärzt. Es war nahezu perfekt. Hyld trug einen Dolch und ihre Schleuder am Gürtel und ging mit einem übertrieben schweren Männerschritt, um die Kinder zum Lachen zu bringen.
Selbst Erik lächelte, als er seinen Sohn vor sich in den Sattel hob. »Sag nicht Mutter zu deiner Mutter, Olaf,
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