Das zweite Königreich
packte sie im Nacken, schleuderte sie in den Schlamm und fiel über sie her. Hyld schloß die Augen und hörte eine ruhige Stimme auf Normannisch sagen: »Das können nicht alle sein. Seht in dem Rattenloch nach.«
Schritte näherten sich. Hylds Herz setzte einen Schlag aus, und für einen Moment glaubte sie, sie werde vor Angst sterben. Irmingard saß stockstill neben ihr, die Augen unnatürlich geweitet, aber ihre Miene trotzig, und plötzlich erinnerte sie Hyld sehr an Erik.
Die Holzbretter der Wand erzitterten dröhnend, als die Soldaten dagegentraten, um festzustellen, ob eines oder mehrere lose waren. Sie untersuchten sie systematisch, und so fanden sie das Schlupfloch schnell: Hyld hatte schon vor zwei Tagen mit Leif und Eadwig und einigen anderen Bewohnern der Halle, die sich nicht auf ihr Glück oder dieGnade der Normannen verlassen wollten, ein paar der unteren Wandbretter gleich neben den Eingangsstufen zur Halle gelöst. Wenn man sie herausnahm, entstand ein schmaler Durchlaß in den niedrigen Hohlraum unter dem Holzfußboden der Halle. Nicht viele hatten es fertiggebracht hineinzukriechen, denn hier unten wimmelte es von Ratten und Mäusen und anderem Ungeziefer, das von den Essensresten lebte, die durch die Ritzen zwischen den Bodendielen herabfielen. Wenn man die Bretter von innen wieder einpaßte, war es beinah völlig finster, und in der Dunkelheit wurden die Ratten mutig und wagten sich dicht an die Eindringlinge heran, um sie zu beschnuppern. Man hörte ihr Fiepen in unmittelbarer Nähe, manchmal spürte man auch die federleichte Berührung ihres rauhen Fells, das Zittern ihrer Barthaare. Hyld ekelte sich. Sie verabscheute Ratten, aber sie waren eindeutig das kleinere Übel.
Im Schutz des Gepolters der Tritte zischte sie: »Ihr bleibt hier drin. Ich gehe allein raus.« Sie reichte Olaf zu Irmingard hinüber. Der kleine Junge streckte flehend die Hände nach seiner Mutter aus, aber Hyld schüttelte den Kopf und legte ihm warnend einen Finger auf die Lippen.
Unter den Tritten der Normannen kippten die losen Bretter nach außen weg. Schwaches Licht strömte herein, und die Ratten huschten davon.
»Kommt raus«, befahl eine Stimme auf englisch mit starkem Akzent, »oder wir kippen über euren Köpfen einen Kessel mit siedendem Öl aus!«
Das hat er sicher auswendig gelernt, fuhr es Hyld durch den Kopf. Sie küßte Olaf die Fingerspitzen und murmelte: »Ganz ruhig. Alles wird gut, mein Engel. Hab keine Angst.« Dann rutschte sie langsam auf die Luke zu und arbeitete sich vor ins Freie.
»Guck an, eine angelsächsische Ratte«, brummte einer der Normannen und trat wieder gegen die Bretterwand. »Die anderen auch! Los, los, kommt schon!«
Nichts rührte sich.
Er tauschte ein Grinsen mit seinem Kameraden, bemühte sich auf Hände und Knie hinab und spähte in die dunkle Öffnung. Dann streckte er die Hand aus, und im nächsten Moment ertönte ein halb unterdrückter Schrei. Hyld erkannte Irmingards Stimme.
»Ich glaub’, ich hab’ einen Fuß«, verkündete der Normanne triumphierend und zog.
Hyld überkam ein rasender Zorn, weil diese verfluchten Bastarde sich über sie lustig machten, ehe sie sie abschlachteten. Sie zückte ihren Dolch und stürzte sich auf den gekrümmten Rücken vor der Luke.
Der zweite Normanne stieß einen warnenden Ruf aus, und ihr Opfer fuhr blitzschnell herum und fing ihre herabstoßende Faust mit der Waffe mühelos ab. »Was haben wir denn hier? Ein angelsächsisches Knäblein mit einem Speisemesser?« Er sprang auf die Füße, drehte ihr den Arm auf den Rücken, nahm ihr den Dolch ab und setzte ihn ihr an die Kehle. »Vielleicht sollten wir ihm die vorwitzige Nase damit abschneiden, he?«
Hyld biß sich auf die Zunge.
»Justin, ich sagte, laßt die Hände von den Kindern«, mahnte die ruhige normannische Stimme, die sie vorhin schon einmal gehört hatte. Hyld wandte den Kopf. Der Offizier war als einziger nicht abgesessen. Er war ein gutaussehender junger Mann mit schwarzen Haaren und graugrünen Augen, dessen linker Arm kurz über dem Ellbogen endete, aber er zügelte sein feuriges Schlachtroß mühelos mit einer Hand.
Der Soldat nickte ergeben, ließ das Messer sinken und wollte sie wegstoßen, als seine Hand ihre Brust streifte. »Augenblick mal …«
Er packte sie am Arm, riß ihr die Kapuze herunter und fuhr ihr mit dem Ärmel übers Gesicht. Dann lachte er schallend. »Da hol mich doch der Teufel, das Knäblein ist ein Weibsstück!« Roh zerrte er an ihren
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