Das zweite Königreich
Stewards in Frage zu stellen, und mochte Cædmon of Helmsby auch den Zorn des Königs erregt haben, wußten sie doch so gut wie jedermann, daß er hoch in des Königs Gunst stand, und ließen daher lieber Vorsicht walten.
Alfred trat der abgerissenen kleinen Wandererschar entgegen. »Eadwig, was ist passiert? Wo warst du? Wer sind diese …« Er brach ab, als sein Blick auf Hyld fiel. Er hatte sie seit Britford nicht mehr gesehen, aber ihre Ähnlichkeit mit Cædmon war so deutlich, daß er sie sogleich erkannte. Er machte einen Schritt auf sie zu, als sie schwankte, undstützte sie. »Als wir uns das letzte Mal begegnet sind, warst du nicht so dünn, Base«, bemerkte er mit einem Lächeln. »Aber spitze Knie hattest du damals schon.«
Sie blinzelte verwirrt. Sie hatte keine Ahnung, wovon dieser Mann sprach. »Bitte, wer immer du bist, bring uns zu meinem Bruder.«
Er nahm ihr das Kind aus den Armen, einen vielleicht drei- oder vierjährigen, erbärmlich abgemagerten Jungen, der fest eingeschlafen war. »Cædmon ist nicht hier, Hyld, aber ich bringe euch zu deiner Mutter. Kommt nur.«
Ein schneidend kalter Wind fegte über den Innenhof. Alfred führte die Ankömmlinge zum Hauptgebäude, so schnell deren müde Füße sie trugen, und half ihnen die Treppe hinauf. In der Halle war es nicht gerade anheimelnd. Dicke Buchenscheite brannten im Feuer, aber es zog durch viele Ritzen; die meisten Leute saßen in ihren Mänteln an den Tischen und hatten trotzdem rote Nasen.
»Kommt«, sagte Alfred wieder und führte sie noch eine Treppe hinauf in Cædmons verwaistes Gemach, wo wärmende Teppiche die Wände bedeckten und ein dicker Bettvorhang vor der Zugluft schützte. Er schob ihn beiseite, legte den schlafenden kleinen Jungen auf die Felldecke und winkte sie alle näher. »Ihr müßt zusammenrücken, aber es wird schon gehen. Ich schicke nach Essen und Wein und hole eure Mutter.«
Irmingard, Leif, Eadwig und Hyld kauerten sich um Olaf herum eng zusammen. Das waren sie gewöhnt, sie hatten es in den letzten Wochen bei jeder Rast so gehalten. Hyld zog Olaf wieder auf ihren Schoß, und er wimmerte leise. Sie legte ihre magere, eiskalte Hand auf seine Stirn. Olaf brannte vor Fieber. Er hatte sich schon erkältet, ehe sie nach Lincoln gekommen waren, der erste Ort, wo man ihr Betteln erhört hatte und ihnen zu essen gab. Der erste Ort, der so weit im Süden lag, daß die Todesreiter ihn verschont hatten. Mit einem schier endlosen Strom von Flüchtlingen waren sie in den Innenhof des Klosters gespült worden, und die Mönche hatten sich entschuldigt, daß sie ihnen nur so wenig Brot zu bieten hatten, aber sie konnten diese Massen einfach nicht beköstigen. »Ich wünschte, der Herr Jesus Christus erbarmte sich und stiege herab zu uns mit seinen zwei Fischen und den fünf Broten«, hatte der Bruder gesagt …
Gytha kam mit einem Krug Bier und einer Schüssel Haferbrei. »Hier«, sagte sie leise. »Trinkt zuerst. Eßt langsam. Hyld, Eadwig, willkommen zu Hause.« Sie senkte scheu die Lider.
Hyld nahm kurz ihre Hand und drückte sie schwach. Dann reichte sie Irmingard den Krug. Das Mädchen nahm nur einen winzigen Schluck, ehe sie ihn an ihren Bruder weitergab. Leif trank ebenfalls und streckte Eadwig den Krug entgegen. Eadwig hielt ihn Hyld hin, die die Finger hineintauchte und dann die Lippen ihres Sohnes benetzte. Olaf fuhr mit der Zunge darüber und schlug für einen Moment die fiebrigen Augen auf. Leif und Eadwig ließen ihn nicht aus den Augen, steckten gleichzeitig die Hand in die dampfende Schüssel mit der Grütze und führten die Hand dann zum Mund. Als sie den heißen, mit Salz und Bohnenkraut gewürzten Brei auf der Zunge spürten, tauschten sie ein ganz und gar unkompliziertes, jungenhaftes Grinsen. In den letzten Wochen waren sie oft Rivalen gewesen, hatten manchmal erbittert um die wenigen Bissen gerangelt, die sie fanden. Es schien ein schier unfaßbarer Luxus, essen zu können ohne die Gewissensbisse, dem anderen etwas weggenommen zu haben. Ihr Kampf ums nackte Überleben hatte sie beide zutiefst beschämt, denn sie waren schon in Salby Freunde geworden.
Hyld wickelte ihren kranken Sohn in eine von Cædmons feinen, weichen Wolldecken, tunkte den Finger in die Hafergrütze und steckte ihn zwischen seine Lippen. Mit der anderen Hand griff sie selber zu. Sie hatte zu lange nichts gegessen, um noch Hunger zu verspüren, aber die Vernunft sagte ihr, daß es höchste Zeit war, wieder damit anzufangen. Und nicht nur
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