Das zweite Königreich
um ihretwillen. Seit sie York vor über zwei Monaten verlassen hatte, war ihre Monatsblutung ausgeblieben. Möglich, daß es an den Entbehrungen der letzten Wochen lag, aber das glaubte sie nicht.
Als die Schale mit dem Brei geleert war, kam Gytha ein zweites Mal und brachte ihnen warme Haferfladen, Honig und eine heiße Brühe mit viel Zwiebel und Bärlauch. Noch ehe sie ihre Gaben abgestellt hatte, trat Marie ein.
Sie eilte auf das Bett zu und zog ihren Jüngsten in die Arme, ohne die übrige Reisegesellschaft auch nur eines Blickes zu würdigen. »Eadwig … Gott sei Dank«, sagte sie leise. Sie wirkte vollkommen beherrscht wie immer, aber sie wollte ihn gar nicht mehr loslassen.
Eadwig erduldete diese mütterliche Umarmung höflich, obschon sie ihm vor seinem neuen Freund unendlich peinlich war, doch als Marie ihm die Luft abzudrücken drohte, befreite er sich. »Bitte, Mutter, sieh nach Olaf. Er ist furchtbar krank.«
Der kleine Junge lag reglos in den Armen seiner Mutter. Er hatte dunkle Schatten unter den Augen, sein ausgemergeltes Gesicht war so bleich, daß die Haut beinah durchsichtig schien, und sein Atem rasselte unheilvoll.
Hyld schloß die Augen gegen den eisigen Blick ihrer Mutter und biß die Zähne zusammen. Sie hatte als Junge verkleidet unter Wikingern gelebt, hatte ihren Mann an einen verfluchten Dänenprinz verloren, hatte sich durch Kriegsgebiet allein mit ihrem Bruder nach Salby durchgeschlagen, den Einfall der Todesreiter dort überstanden, hatte gesehen, wie verzweifelte Menschen einander überfielen und niedermachten, an Seuchen oder vor Hunger starben, hatte gar Menschen gesehen, die Menschenfleisch aßen, und hatte sich nie gehen lassen, nie gezeigt, wie entsetzt und verzweifelt sie selber war, sondern sich selbst und alle, die ihr anvertraut waren, lebend nach Helmsby gebracht. Und sie wollte verdammt sein, wenn sie jetzt anfing zu heulen, nur weil ihre Mutter kein freundliches Wort für sie hatte.
Mit frostiger Miene, aber unerwartet sanften Händen untersuchte Marie den kranken kleinen Jungen, zog seine Lider hoch, fühlte seine Stirn, betastete seinen Hals und lauschte seinem mühseligen Atem. Dann richtete sie sich auf und wandte sich an Eadwig.
»Sag deiner Schwester, ihr Sohn stirbt.«
Rouen, Dezember 1069
Auch in Abwesenheit des Herzogs und seiner Herzogin verzichtete man in Rouen nicht auf Prunk und Pomp zu den Weihnachtsfeierlichkeiten. Williams ältester Sohn Robert, der die Normandie in Abwesenheit seines Vaters inzwischen alleinverantwortlich verwaltete, hielt prachtvoll hof. Adlige, Ritter und Kirchenfürsten aus dem ganzen Land versammelten sich, und wie immer zog es zu Weihnachten auch die normannischen Abenteurer aus Sizilien nach Hause. Sie wurden in Rouen herzlich willkommen geheißen, und alle scharten sich neugierig um sie, um festzustellen, welch fremdländisches, heidnisches Zeug sie wieder mitgebracht hatten. Die größte Attraktion war dieses Jahr ein neuartiges Brettspiel mit kleinen Feldern aus Elfenbein und Ebenholz und verschiedenen Soldaten- und Reiterfiguren. Dieses Spiel hatte einenschier unaussprechlichen Namen, der irgend etwas mit dem Beherrscher der persischen Heiden zu tun hatte.
Das Willkommen für die Bettler war weniger herzlich, aber auch in diesem Punkt folgte Robert dem Vorbild seines Vaters: Jeder, der auf der Burg um Almosen bettelte, bekam eine Schale heißer Suppe und, wenn er Glück hatte, ein paar Abfälle von der hohen Tafel.
Eine große Schar Bettler war nach wie vor eine gute Tarnung. In ihrer Mitte und in ein paar Lumpen gehüllt war Cædmon unerkannt durchs Tor gelangt.
Er hielt seine Schale in gefühllosen Fingern, fror erbärmlich in der eisigen Kälte auf dem Burghof und dachte sehnsüchtig an seinen guten Mantel, den er mitsamt der Rüstung in London verkauft hatte, um Geld für die Überfahrt und Reiseproviant zu bekommen. Das meiste Geld war noch übrig. Ein guter Wollmantel und vor allem das Kettenhemd und der normannische Helm mit dem Nasenschutz waren ein kleines Vermögen wert.
Ein Küchenjunge sammelte die leeren Schalen ein und scheuchte die Bettler mit einer Geste weg, als wolle er eine Schar Krähen von einem Feld verjagen. »Packt euch! Macht Platz für die nächsten.«
Cædmon reichte ihm seine Schale, wandte sich ab und hinkte davon. Als er den Burghof zur Hälfte überquert hatte, glitt er im Schutz der Dunkelheit zum Hauptgebäude hinüber und betrat die Vorhalle. Sie war menschenleer. Er warf nervöse
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