Das zweite Königreich
wies in den Hof hinunter, wo Jehan de Bellême wie eh und je eine Schar halbwüchsiger Jungen herumscheuchte. »Da werden neue Helden für Williams Kriege geschmiedet«, bemerkte er. »Gestählt und gehärtet, um englische Bauern und ihr Vieh abzuschlachten.«
Jehan zerrte einen Unglücksraben aus dem Sattel, brüllte ihn an, zog die berüchtigte Gerte aus dem Gürtel und drosch auf den Burschen ein. Wulfnoth wandte sich seufzend ab. »Du tust gerade so, als würden angehende englische Housecarls anders erzogen. Bei uns zu Hause war es schlimmer, glaub mir.«
Cædmon schüttelte langsam den Kopf. »Es ist anders. Kein englischer Housecarl hätte für seinen Lord oder König das getan, was Lucien de Ponthieu für William getan hat.«
Wulfnoth widersprach ihm nicht. Aber er erinnerte sich an den einen Feldzug, den er im Gefolge seines Bruders miterlebt hatte. Harold hatte eine Strafexpedition gegen ein paar Grenzdörfer angeführt, die sich auf die Seite des walisischen Prinzen Gruffydd geschlagen hatten, und HaroldsHorden hatten in diesen Dörfern nicht einen Mann leben lassen und nicht eine Frau verschont. So war der Krieg. Natürlich gab es einen Unterschied zwischen der Rückeroberung einer Handvoll Grenznester und Williams systematischer Verwüstung Nordenglands, die vielleicht vornehmlich dazu hatte dienen sollen, den dänischen Invasionstruppen den Nachschub abzuschneiden, die aber auf eine Entvölkerung ganzer Landstriche hinauslief. Diese Tat war beispiellos. Aber nicht in ihrer Grausamkeit. Nur in der Zahl ihrer Opfer.
»Cædmon, ich habe Nachrichten für dich.«
Cædmon sah verwundert auf. »Aber wie sollte das möglich sein? Von wem?«
»Hör zu.« Wulfnoth zog eine schmale Pergamentrolle aus seinem Ärmel, setzte sich damit an den Tisch und breitete sie aus.
» Liebster Onkel«, las er vor. »Gott, ich hasse es, wenn sie mich so nennt …«
»Wulfnoth, was hast du getan?«
Wulfnoth sah nicht von seinem Brief auf. »Ich habe einen Weg gefunden, dir zu helfen, ohne meinen Eid zu brechen. Jetzt halt den Mund und hör zu: Die Nachrichten aus dem Norden sind schlecht. Die Rebellion im Westen ist nicht niedergeschlagen. Der König ist gleich nach Weihnachten von York aufgebrochen und hat den Gebirgszug der Pennines überquert, um nach Chester zu gelangen, ehe die Aufrührer dort mit ihm rechnen. Das Wetter in den Bergen ist entsetzlich. Er hat viele Männer verloren, unter den Truppen droht eine Meuterei. Mehr weiß ich nicht, und mein Herz ist schwer. Ich hoffe, Euer Freund Cædmon hatte nicht recht, als er prophezeite, Gott werde William seine Taten nicht vergeben. Ich hoffe, Gott hat ihn nicht verlassen, denn er ist der einzige, auf den William wirklich vertraut. « Wulfnoth hielt kurz inne und warf Cædmon mit gerunzelter Stirn einen Blick zu, ehe er fortfuhr. »Ich muß Euch gewiß nicht vorwerfen, daß Ihr mich in einen bösen Konflikt bringt – Ihr wißt es selbst. Sagt Cædmon nicht, er habe mit seiner Flucht Schande über sich gebracht, denn die Schande des Königs wiegt schwerer. Sagt ihm auch nicht, daß er zurückkommen muß, um einen englischen König aus Richard zu machen, denn die Krone mag ebenso an Robert gehen. Sagt ihm nur soviel:
Wer es erfahren hat, weiß,
Welch grausame Gefährtin die Trauer ist
Wenn alle Freunde seines Herzens verloren sind.
Ihm bleiben nur die dunklen Pfade des Exils
Nach dem strahlend hellen Gold der Ringe.
Nur die taube Kälte seines Herzens
Nach allen Schätzen der Welt.
Er entsinnt sich der Männer in der Halle
Und der Pracht der Gaben,
der Tage seiner Jugend, da sein huldreicher Herr
beim Bankett ihn ehrte.
Alles Glück ist vergangen für den,
der ohne die weise Führung seines Herrn ist.«
Cædmon schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.«
»Warum bist du dann so bleich geworden?«
»William ist nicht huldreich. Und seine Führung nicht weise.«
»Nein.« Wulfnoth seufzte tief. »Es sind nur ein paar Zeilen aus einem alten englischen Gedicht. Es heißt ›Der Wanderer‹. Und Matilda hat recht, dieser ziellos umherirrende Wanderer bist du im Moment.«
Cædmon ergriff die Laute, spielte aber nicht. Er sah auf den birnenförmigen Korpus hinab und hob unbehaglich die Schultern. »Der werde ich immer sein. Ganz gleich, wo ich bin, hier oder in England.«
»Aber in England hast du Freunde, Cædmon. Matilda, Etienne, Roland Baynard, deine Familie.«
»Und meinen huldreichen Herrn«, murmelte Cædmon
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