Das zweite Königreich
sie? «
»Du wirst schon sehen. Jetzt komm endlich.«
Mit einem nervösen Ziehen im Magen betrat Cædmon die dämmrige Kapelle.
Trübes Tageslicht fiel durch die kleinen Fenster auf die steinernen Bodenfliesen und die verblaßten Fresken an den gekalkten Wänden: die Verkündigung, die Passion, die Höllenfahrt, die Auferstehung, das Weltgericht. Am Altar brannte ein halbes Dutzend dicker Kerzen. Als der Luftzug der geöffneten Tür die Flammen bewegte, warfen sie unruhige, zuckende Schatten auf das schwere, goldene Altarkreuz und die beiden Männer, die davor standen und warteten.
Cædmon trat näher und erkannte Odo, den Halbbruder des Königs,Bischof von Bayeux und Earl of Kent. Erleichtert sank er auf ein Knie nieder, ergriff die ausgestreckte Hand und berührte den Ring mit den Lippen.
»Erhebt Euch, mein junger Freund«, gebot Odo, dessen warme, tiefe Stimme meist ein gutmütiges Lächeln auszudrücken schien. So ganz anders als die scharfe, oft schneidende Stimme des Königs.
»Dies ist Lanfranc, der Abt von St. Etienne in Caen«, stellte Odo vor und wies auf den hochgewachsenen, hageren Mann an seiner Seite. »Er ist hergekommen, um uns bei der Reform der englischen Kirche zu unterstützen.«
So, dachte Cædmon, der vielgerühmte Lanfranc wird also Erzbischof von Canterbury. Der arme Vater Cuthbert und all die anderen wohlmeinenden, aber ungebildeten und obendrein verheirateten englischen Priester konnten einem leid tun. Schwere Zeiten kamen auf sie zu.
Er verneigte sich wortlos vor dem ehrwürdigen Abt.
Lanfranc sah ihn aus lodernden, fast schwarzen Augen eindringlich an. »Wir kennen uns«, bemerkte er zu Odo.
Odo sah verblüfft zu Cædmon, der knapp nickte. »Das Weihnachtsfest im Jahr vor der Eroberung, Monseigneur. Ich entsinne mich gut. Mein Freund Wulfnoth spricht noch heute voller Bewunderung von Eurer Eloquenz und Gelehrsamkeit.«
Lanfranc verzog den Mund. »Ich hörte, alle Godwinsons seien heuchlerische Schmeichler.«
»Dann seid Ihr falsch informiert. Harold Godwinson kann man vieles nachsagen, aber er war gewiß kein Schmeichler. Und von allen Godwinsons ist Wulfnoth der Beste.«
»Cædmon …«, raunte Etienne eindringlich. »Vergiß nicht, mit wem du sprichst.«
Cædmon nahm sich zusammen, aber er entschuldigte sich nicht.
Odo trat einen Schritt näher und sagte leise: »Ich merke, Ihr seid immer noch bitter, Cædmon. Und ich kann Euch verstehen, glaubt mir. Aber wir können Geschehenes nicht ungeschehen machen, und für uns alle ist es jetzt wichtig, nach vorn zu blicken. Ich will gar nicht versuchen zu rechtfertigen, was mein Bruder, der König, getan hat. Trotzdem solltet Ihr bedenken, daß dieser Däneneinfall zusammen mit den Aufständen im Westen und der Gefahr durch Edgar Ætheling und die Schotten die bislang größte Bedrohung für Williams Herrschaft in England darstellte. Seine Lage war verzweifelt.«
»Und ist es noch«, fügte Lanfranc an, ehe Cædmon seine hitzigen Einwände vorbringen konnte. »Die dänische Flotte hat den Humber zwar verlassen, aber jetzt kreuzt sie vor der Ostküste. Es heißt, König Sven habe sich seinen Söhnen angeschlossen. Und in den Sümpfen Eurer Heimat rottet sich eine Schar Aufständischer zusammen, und es werden jeden Tag mehr.«
»Hereward der Wächter?« fragte Cædmon ungläubig.
Abt und Bischof wechselten einen kurzen Blick, ehe Odo fragte. »Ihr habt von ihm gehört?«
»Jeder Mann in East Anglia hat von ihm gehört. Aber er ist nur ein Abenteurer, ein Gesetzloser, der sich mit einer Bande von Wilderern im Moor versteckt.«
Lanfranc betrachtete ihn mit leicht geneigtem Kopf. »Nun, wir werden sehr bald feststellen, wie gefährlich er ist. Die Krise ist jedenfalls noch nicht gebannt. Und der König braucht Euch jetzt mehr denn je.«
Cædmon trat instinktiv einen halben Schritt zurück und hob abwehrend die Linke. »Es gibt so viele andere, die für ihn übersetzen können …« »Mag sein, aber er will Euch. Weil er Euch kennt, weil Ihr Engländer seid, was in vielen Situationen von Vorteil ist – Ihr selbst kennt die Gründe sicher am besten. Und seine Bedingungen sind durchaus annehmbar, würde ich sagen …«
»Bedingungen? «
»Cædmon«, sagte Odo betont leise. »Die Königin hat größte Mühen darauf verwandt, zu erreichen, daß der König Euch Eure Flucht verzeiht, Euch Eure Ländereien läßt … und natürlich die Hand, die Ihr verwirkt habt. Die wollen wir nicht vergessen.«
Cædmon spürte sein Gesicht heiß
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