Das zweite Königreich
werden. »Woher wißt Ihr …?«
»Mein Bruder Robert hat mir die Geschichte in allen Einzelheiten erzählt. Aber macht Euch keine Illusionen – der gesamte Hof weiß davon. Ihr wart den ganzen Winter über ein beliebtes Gesprächsthema.«
»Gott verflucht …« Er besann sich, wo er sich befand und wen er vor sich hatte, und murmelte zerknirscht: »Ich bitte um Verzeihung, Monseigneurs.«
Bischof und Abt nickten ernst, aber nachsichtig. »Die Königin hat Etienne und mich ins Vertrauen gezogen«, fuhr Odo fort. »Und ich konnte Lanfranc für unsere Sache gewinnen. Wir alle haben uns sehr bemüht, die Wogen zu glätten, glaubt mir, mein Junge. Für Euch, fürWilliam und für England. Und ich bin sicher, wenn Ihr in Ruhe darüber nachdenkt, werdet Ihr dankbar sein. Denn daraus, daß Ihr hier seid, darf man wohl schließen, daß Ihr keine große Lust verspürt, Euch der Waranger-Garde in Byzanz anzuschließen oder mit Williams Feinden auf dem Kontinent zu paktieren.«
»Nein, das ist wahr«, räumte er offen ein. »Was verlangt der König?« »Einen Eid«, antwortete Odo.
»Aber ich habe ihm schon einen Lehnseid geleistet«, wandte Cædmon verständnislos ein.
»Und habt ihn gebrochen, als Ihr geflohen seid. Er will eine Erneuerung. Einen Treueschwur. Vor Zeugen.«
»Ach ja? Soll ich vielleicht im Büßerhemd vor den versammelten Hof treten?« fuhr er wütend auf.
»Das war es, was er wollte«, bestätigte Etienne ungerührt. »Aber ich habe ihm gesagt, daß du das niemals tun wirst …«
»Da hast du verdammt recht …«
»… weil du eben doch nur ein halbwilder Angelsachse bist und einfach nicht weißt, was sich gehört.«
Warte nur, bis wir allein sind, dachte Cædmon verdrießlich. Er warf seinem Freund einen vernichtenden Blick zu, verschränkte die Arme und schwieg beharrlich.
Lanfrancs Mundwinkel zuckte amüsiert. »Euch ist sicher nicht unbekannt, daß ich ein ehrgeiziger Mann bin, Cædmon of Helmsby«, begann er. »Und wenn ich schon die undankbare Aufgabe auf mich nehme, dieses gottverlassene Land in den Schoß der Kirche zurückzuführen, dann, verlaßt Euch darauf, werde ich es auch gründlich tun. Der König wünscht nicht nur, daß ich den englischen Klerus reformiere, er will ebenso, daß wir dieses Land befrieden und eine funktionsfähige Verwaltung aufbauen – kurz gesagt, er verfolgt die gleichen Ziele wie Euer König Alfred, den ihr Engländer so glühend verehrt. Aber diese Ziele werden nur erreichbar, wenn Männer wie Ihr uns unterstützen. Also, was sagt Ihr?«
Als Cædmon die Halle betrat, war das Festessen längst vorüber. Die Bänke hatten sich merklich geleert, und diejenigen, die noch da waren, waren mehrheitlich betrunken.
Trotzdem versiegten die angeregten Unterhaltungen nach und nach, als die Höflinge den jungen, dunkel gekleideten Mann erkannten, derlangsam auf die hohe Tafel zuging, den Blick stur nach vorn gerichtet. Schließlich war es so still, daß Cædmon das Stroh unter seinen Schritten rascheln hörte, und er spürte Dutzende Blicke in seinem Nacken wie tückische, kleine Nadelstiche. Es war noch viel schlimmer, als er vorausgesehen hatte. Es erinnerte ihn an die Zeiten, da er ein Krüppel gewesen war und ihn immer alle anstarrten, wenn er einen Raum betrat. Heute so wie damals schnürte es ihm die Luft ab und erfüllte ihn mit einer beinah unbezähmbaren Wut.
Der König wirkte erhaben mit seiner Krone auf dem Haupt. Cædmon hatte gelegentlich geholfen, das prunkvolle, edelsteinbesetzte Stück wieder sicher in seiner Schatulle im Privatgemach des Königs zu verstauen, und wußte daher, wie unglaublich schwer sie war. Doch William trug sie, als spüre er das Gewicht überhaupt nicht, und die Krone verwandelte ihn, machte das gottgegebene Königtum offenbar. Ein so machtvolles Strahlen schien von ihm auszugehen, daß es die Augen gewöhnlicher Sterblicher beinah blendete. Mehr als in der verschwenderischen Pracht des Hoffestes, als in jedem königlichen Dekret manifestierte sich seine Herrscherwürde in diesem Bild. Und Cædmon hatte schon manches Mal gedacht, wie klug der König war, all seine Vasallen und die Mächtigen seines Reiches diesem einschüchternden Anblick jedes einzelne Mal auszusetzen, wenn sie sich an seinem Hof versammelten.
Ließ man jedoch das Blendwerk außer acht und schaute genauer hin, stellte man fest, daß auch dem König die Strapazen des vergangenen Winters anzusehen waren. Sein Gesicht war kantiger als früher, seine Haltung
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