Das zweite Königreich
steht’s mit der Grammatik?«
Richard grinste, wurde aber sofort wieder ernst und senkte den Kopf. »Ich habe jeden Tag gebetet, daß du zurückkommst, Cædmon.«
»Ich bin geehrt.«
Sie unterhielten sich ein Weilchen, und Cædmon stellte zufrieden fest, daß Richard beachtliche Fortschritte in Englisch gemacht hatte. Vielleicht hatte auch Eadwigs Gesellschaft dazu beigetragen. Er konnte es immer noch nicht so recht fassen, daß sein Bruder hier unversehrt vor ihm stand. Und er war dem König dankbar und nicht wenig geschmeichelt, daß er ausgerechnet Eadwig als Gefährten für die Prinzen ausgewählt hatte.
Als die Jungen sich höflich verabschiedeten, weil es längst Zeit für sie war, schlafen zu gehen, hielt er Eadwig mit einem gemurmelten Wort zurück.
»Wie schlimm ist es mit Lucien de Ponthieu?«
Eadwig schnitt eine vielsagende Grimasse, sagte aber nichts.
»Willst du, daß ich mit ihm rede?«
Sein Bruder überlegte einen Augenblick. Dann schüttelte er den Kopf. Cædmon klopfte ihm seufzend die Schulter. »Gute Nacht, Eadwig of Helmsby.«
Eadwig grinste. »Gute Nacht, Thane.«
Cædmon schlenderte die Seitentische entlang, bis er seine Freunde entdeckte. Er beobachtete sie einen Augenblick mit Muße. Roland Baynard, Etienne fitz Osbern, ihre Brüder und ein paar weitere junge normannische Adlige saßen vor vollen Bechern und würfelten, auch Lucien de Ponthieu war dabei. Cædmon zögerte, entschied dann, sich ihnen anzuschließen, als ein eiliger Page ihn fast über den Haufen rannte und einen halben Becher Wein über Cædmons Ärmel verschüttete. »Herrgott, paß doch auf, Bengel!«
»Ich bitte vielmals um Verzeihung, Thane.« Zerknirscht zückte der Page einen schmuddeligen Lumpen, wischte halbherzig über das Malheur und machte alles noch ein bißchen schlimmer.
Cædmon erkannte verblüfft, daß der Junge trotz des normannischen Haarschnitts Engländer war, und fragte sich, wessen Sohn er wohl sein mochte, als der Page ihm zuraunte: »Geht in die Kanzlei. Jetzt gleich.« »Was …«
Aber der Junge war schon davongeeilt.
Verwundert, beunruhigt und neugierig verließ Cædmon die Halle, stieg eine Treppe hinauf und ging den Gang entlang zu dem Raum, wo die Mönche der königlichen Verwaltung die Steuer-, Pacht- und Zolleinnahmen der Krone verzeichneten und den Ausgaben gegenüberstellten. Von früh bis spät kritzelten sie endlose Pergamentrollen mit ebenso endlosen Zahlenreihen voll. Cædmon hatte nicht häufig Grund, die Kanzlei aufzusuchen, aber wann immer er diese gewissenhaften, ernsten Männer über ihre Arbeit gebeugt sah, bedauerte er sie. Welch ein tristes Dasein sie fristeten.
Doch so emsig sie auch waren, zu dieser späten Stunde waren sie nicht mehr am Werk. Ganz abgesehen davon, daß Feiertag war. Die Tür quietschte vernehmlich, ein wenig Licht aus dem Korridor fiel in den dunklen, verwaisten Raum. Cædmon nahm eine Fackel mit hinein. Das Licht tanzte über die Schriftrollen und dicken Lederbände auf den Stehpulten, Tischen und den Regalen entlang der Wände. Die Mäuse, die hier so vortrefflich gediehen und sich in den alten, verstaubten Jahrgängen ihre Nester bauten, huschten raschelnd ins Dunkel.
»Hallo?« raunte Cædmon. Er kam sich albern vor. Wer in aller Welt sollte um diese Zeit schon hier sein? Dieser Page konnte was erleben … »Cædmon.«
Um ein Haar hätte er die Fackel fallen lassen, und all die vielen Zahlen und Ziffern wären in Rauch aufgegangen.
»Aliesa …«
Er wich entsetzt einen Schritt zurück. Sein erster Impuls war, sich umzuwenden und das Weite zu suchen. Aber das brachte er natürlich nicht fertig. Statt dessen schüttelte er wie benommen den Kopf, rieb sich das Kinn an der Schulter und befestigte zögernd die Fackel neben ihr in einer Halterung an der Wand. Als die Flamme zur Ruhe kam, tauchte sie ihr Gesicht in weiches, gelbes Licht; ihre Wimpern warfen lange Schatten auf ihre perfekten, sahneweißen Wangen.
»Was hat das zu bedeuten, Madame?«
»Ich … konnte heute abend nicht am Festmahl teilnehmen«, bemerkte sie beiläufig. Die normannische Art auszudrücken, daß sie nicht hatte mit ansehen wollen, wie er vor dem König zu Kreuze kroch, mutmaßte er.
»Das ist mir aufgefallen.«
Sie hob den Blick und lächelte schwach. »Trotzdem wollte ich nicht versäumen, Euch zu sagen, wie froh ich bin, daß Ihr zurückgekommen seid und der König Einsicht gezeigt hat.«
»Und zu dem Zweck bestellt Ihr mich hierher? Es ist noch keine Stunde her,
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