Das zweite Königreich
länger als ihn, weißt du.«
Sie sah ihn verständnislos an, und er erzählte ihr von dem Tag in Beaurain, als sie den Falken geküßt hatte.
Sie nickte unerwartet. »Ja, ich habe dich gesehen. Ich habe auch gesehen, wie du auf Luciens Pferd gestiegen bist. Und gebetet, daß du durchs Tor kommst.«
Er lächelte verblüfft, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Für einen Moment lehnte sie den Kopf an seine Brust, doch dann machte sie sich los. »Wir sollten lieber gehen.«
Cædmon nickte bedauernd. Er stand auf, streckte ihr die Hände entgegen und zog sie auf die Füße. Dann bückte er sich und reichte ihr das couvre-chef, das zusammengeknüllt am Boden lag.
»Es ist ganz verknittert«, bemerkte er zerknirscht.
Sie lachte und zuckte mit den Schultern. »Komm und hilf mir mit den Haaren.«
»Was muß ich tun?«
»Streich sie glatt und zerteil sie in drei gleiche Teile. Ein einfacher Zopf muß reichen.«
Er tat, wie ihm geheißen, und sah dann gebannt zu, während sie die lange schwarze Flut geschickt flocht.
»Wird er nichts merken?« fragte er leise. Er fühlte sich erbärmlich dabei.
Sie antwortete nicht, bis das Tuch ihre Haare bedeckte und der Stirnreifrichtig saß. Dann wandte sie sich zu ihm um und sagte: »Nein. Er ist betrunken. Ich werde schon schlafen, wenn er kommt. Oder zumindest so tun.«
Er nickte und beneidete sie um ihre Gelassenheit.
Sie legte die Arme um seinen Hals und küßte ihn auf die Wange. Er zog sie an sich, vergrub das Gesicht an ihrem Hals und sog ihren Duft tief ein.
Sie küßte seine Schläfe. » Bonne nuit, Cædmon«, flüsterte sie. »Träum von mir.«
Dann war sie verschwunden.
Cædmon befand sich in einem Fegefeuer widersprüchlicher Empfindungen. Sein langgehegter Traum, seine größte Sehnsucht hatte sich erfüllt. Und es erschien ihm gar nicht so unfaßbar, jetzt da es einmal geschehen war. Im Gegenteil. Es war richtig, in gewisser Weise unvermeidbar gewesen. Er war überzeugt, ein so heftiges, beständiges Gefühl wie seines konnte auf Dauer nicht ohne Folgen bleiben. Aber natürlich quälte ihn sein Gewissen. Etienne ließ niemanden im Zweifel darüber, wie selig er über Cædmons Rückkehr war, wich während der ersten Tage kaum je von seiner Seite und überhäufte ihn mit Bekundungen seiner Großzügigkeit und Freundschaft. Und dann verfluchte Cædmon sich und gelobte, der Sache sofort ein Ende zu machen. Doch wenn Aliesa ihn das nächste Mal zu einem heimlichen Rendezvous bestellte – sie war erstaunlich erfinderisch darin –, wurde er jedesmal schwach. Sie trafen sich vor Tau und Tag oder spätabends in abgelegenen Außengebäuden oder gar in der Sakristei der Kapelle – nie zweimal hintereinander am selben Ort. Es waren immer flüchtige Begegnungen, verstohlen und hastig, leises Rascheln und Flüstern in der Dunkelheit. Nur einmal hatten sie gewagt, sich von einer großen Jagdgesellschaft abzusetzen, waren ein weites Stück durch den Wald geritten, bis sie an einen stillen, kleinen See kamen, meilenweit weg von den restlichen Jägern und jedweder menschlichen Siedlung. Dort hatten sie zum erstenmal Muße, liebten sich zum erstenmal unbekleidet, und Cædmon stellte ohne jede Verwunderung fest, daß alles an Aliesa makellos war – in seinen Augen jedenfalls. Die rundlichen Schultern, die hohen, beinah üppigen Brüste mit den zartrosa Spitzen, der flache, weiche Bauch, die schlanken, aber muskulösen Beine, selbst die winzigen, verkümmerten kleinen Zehen fand er anbetungswürdig. Das gestand erfreilich nur seiner Laute, wenn er abends allein in einem stillen Winkel saß, neue Melodien und törichte, oft schwülstige und niemals gesungene Verse ersann …
»… ließen die angelsächsischen Könige in allen befestigten Stadtanlagen Münzen einrichten, die von königlich bestellten, sorgsam ausgebildeten Münzern betrieben wurden. Etwa alle zwei Jahre ließ der König die Münzen einschmelzen und neue prägen. Die Gußformen für die neuen Münzen mußten die Münzer sich in Winchester abholen. Die Könige taten dies, um die gleichbleibende Qualität des Silbergeldes zu sichern … Angeblich. In Wahrheit gaben sie jedoch jedesmal einen Geheimbefehl aus, das Münzsilber mit Kuhscheiße und Kröteneiern zu gleichen Teilen zu strecken, damit das englische Geld bis zum Tage der normannischen Eroberung praktisch wertlos wurde.«
Als die Stimme verstummte, kehrte Cædmon aus weit entfernten Gefilden in die Gegenwart zurück und hob den
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