Das zweite Königreich
Kopf. »Sehr schön, Rufus.«
Richard, Eadwig, Leif und die anderen jungen Knappen prusteten los. Cædmon runzelte unwillig die Stirn. »Was ist so komisch?«
»Du, Cædmon«, antwortete Richard offen. »Du hast nicht zugehört. Rufus hat die infamsten Lügen über das englische Münzsystem erzählt, das doch selbst der König immer in höchsten Tönen löbt … lobt.« Cædmon bedachte den Übeltäter mit einem drohenden Stirnrunzeln. »Flegel. Sei lieber vorsichtig.«
Rufus nickte unbekümmert. »Ich weiß immer ziemlich genau, was ich mir bei wem leisten kann. Und die Rechnung geht meistens auf, es sei denn, mein Bruder fällt mir in den Rücken.«
Cædmon verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. Er ließ sich seine Verärgerung nicht anmerken. Schließlich hatte der Junge sich nur einen harmlosen Scherz erlaubt – auf den ersten Blick jedenfalls. Tatsächlich verbarg sich ein bißchen mehr dahinter, aber niemand außer Cædmon und Rufus wußte das.
Cædmon machte eine auffordernde Geste. »Da ich heute anscheinend zu langsam für euch bin, entlasse ich euch ein bißchen früher als gewöhnlich in Bruder Rollos Obhut. Ich weiß, wie sehr ihr dem Leseunterricht entgegenfiebert.«
Ein vielstimmiges Stöhnen war die Antwort.
Cædmon vermutete, es war Lanfranc, der dem König diese alberne Ideein den Kopf gesetzt hatte, daß nämlich junge Männer von Rang des Lesens mächtig sein sollten, damit sie von ihren Verwaltern nicht betrogen wurden oder damit sie in ihren Mußestunden die Bibel studieren konnten, statt immer nur zu würfeln und zu zechen – Cædmon kannte den Grund nicht, und er fand die Vorstellung von einem lesenden Ritter unsäglich albern –, doch der König hatte angeordnet, daß die Knappen am Hofe fortan von einem seiner Schreiber in dieser mysteriösen Kunst unterwiesen werden sollten. Sie haßten diesen Unterricht weitaus mehr als den bei Lucien de Ponthieu, und Cædmon dachte mit leisen Gewissensbissen, daß er sie alle für seinen Mangel an Aufmerksamkeit büßen ließ.
»Na los, worauf wartet ihr, verschwindet.«
Sie erhoben sich murrend von dem gescheuerten Eichentisch in ihrem Quartier, wo Cædmon sie bei schlechtem Wetter immer unterrichtete, um sich auf die Suche nach dem sauertöpfischen Mönch und seinen verfluchten Büchern zu begeben.
Cædmon blieb allein zurück, stützte das Kinn auf die Faust und sann über diesen unbedeutenden kleinen Zwischenfall nach, über andere Dinge, die ihm in den letzten Wochen an Rufus aufgefallen waren, und fragte sich vage, was sich wohl dahinter verbarg. Aber er konnte sich nicht lange damit befassen. Innerhalb kürzester Zeit kehrten seine Gedanken zu Aliesa zurück. Er legte den Kopf auf die verschränkten Arme und ergab sich dem vertrauten Wechselbad aus Verzückung, Scham und Traurigkeit.
»Cædmon? Fehlt dir etwas?«
Er fuhr erschrocken auf. »Was hast du hier verloren, Eadwig? Scher dich zum Unterricht. Was ich sage, gilt für dich genauso wie für jeden … Junge, du bist ja kreidebleich. Was ist passiert?«
»Etienne fitz Osbern schickt mich. Cædmon …« Eadwig brach ab. Gott, nicht Aliesa, dachte Cædmon. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Raus damit. Mach schnell.«
Eadwig riß sich zusammen. »Die Dänen sind in East Anglia eingefallen. Etienne sagt, der König will sofort losmarschieren, und er verlangt nach dir.«
»Wo in East Anglia? Helmsby? Metcombe?«
Sein Bruder schüttelte den Kopf. »In Ely.«
Cædmon sprang so abrupt auf, daß der Hocker polternd umkippte. »Guthric …«
Helmsby, Juni 1070
»Cædmon, ich kann mich des Eindrucks einfach nicht erwehren, daß die Dänen die Mönche von Ely ganz besonders ins Herz geschlossen haben.«
»Das scheint mir auch so, Sire.«
»Auf jeden Fall behandeln sie sie weitaus rücksichtsvoller als die bedauernswerten Brüder der Abtei von Peterborough«, fuhr der König fort.
»In Ely ist auch nicht so viel Gold zu rauben wie in Peterborough. Außerdem hat Ely keinen normannischen Abt«, gab Cædmon zu bedenken.
Der König sah ihn finster an. »Soll das vielleicht eine Entschuldigung sein?«
»Nur eine Erklärung, Sire.«
Seit Wochen hatten sich die Dänen auf der Klosterinsel von Ely verschanzt, und die englischen Rebellen unter dem inzwischen sagenumwobenen Hereward hatten sich ihnen dort angeschlossen. Die Mönche, allen voran ihr Abt Thurstan – ein Freund und Waffenbruder von Harold Godwinson, hieß es –, hatten ihre Gäste mit etwas mehr als
Weitere Kostenlose Bücher