Das zweite Königreich
meisten Nordländer sind längst Christen geworden. Die Dänen sind kein so übles Volk, wie man dich gelehrt hat, glaub mir.«
Cædmon sah unwillkürlich auf sein Bein hinab und antwortete nicht. Harold blickte kurz zum Himmel auf. »Ich schätze, wir kriegen ein bißchen mehr Wind, als wir uns gewünscht haben. Es könnte ein wenig ruppig werden. Besser, du gehst mittschiffs in Deckung. Und paß bloß auf den Falken auf. Sieh dich rechtzeitig nach irgendwas um, woran du dich festhalten kannst.«
Es war ein guter Rat. Beinah schlagartig wurde der Tag finster, gewaltige Wolkentürme jagten heran und entluden sich über ihnen. Der Wind heulte auf und steigerte sich so schnell zu einem handfesten Sturm, daß der Mast brach, ehe Harold den Befehl geben konnte, das Segel einzuholen. Der Earl und die Seeleute an Bord waren fieberhaft bemüht, lose Ladung zu vertäuen und die Männer an Bord so zu verteilen, daß das Schiff keine Schlagseite bekam. Turmhohe Brecher schlugen über die Reling, und weil es finster war, wußte man erst, daß sie kamen, wenn sie einen wie ein eisiger Schlag auf den Kopf trafen. Viele Stimmen brüllten durcheinander, schwere Schritte rannten bald zum Bug, bald nach achtern, und schon zweimal war der grauenvolle Schrei: »Mann über Bord!« erklungen.
Cædmon hatte ein Tau gefunden, das zur Takelage gehörte, hatte es mehrmals um seinen Arm geschlungen und das andere Ende an einen eisernen Ring in der Bordwand geknotet. Er kniete am Boden, hatte den Brechern den Rücken zugewandt und beugte seinen Oberkörperschützend über den Falken, der jetzt vollkommen reglos auf seinem Arm hockte und fast unmerklich bebte.
Wieder gellte der verzweifelte Ruf: »Mann über Bord!« Und eine zweite Stimme schrie fast gleichzeitig: »Oh, heiliger Petrus, steh uns bei, es war Bedwyn. Bedwyn!«
»Wer immer Bedwyn sein mag, sein Schicksal ist es, noch heute vor seinem Schöpfer zu stehen«, ächzte eine vertraute Stimme neben Cædmon.
»Bruder Oswald!«
»Erlaubst du, daß ich mich an deinem Seil festhalte, Freund Cædmon?«
»Natürlich.«
Oswald war auf Händen und Füßen herangekrochen. Erleichtert griff er nach dem dicken Tau und klammerte sich so fest daran, daß seine Knöchel weiß hervortraten. Er war von Kopf bis Fuß durchnäßt, genau wie Cædmon, seine Kutte klebte ihm am dürren Leib. »Man könnte meinen, Gott sei unserer Mission nicht wohlgesinnt.«
Cædmon nickte. »Ich hoffe, er hat nicht die Absicht, uns deswegen gleich alle zu ersäufen.«
Oswald setzte sich ein wenig auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Bordwand, die Hände unverändert um das Seil gelegt. »Das hoffe ich auch. Kannst du schwimmen?«
»Ja. Ihr?«
Oswald nickte und atmete tief durch. »Aber ich glaube, ich hätte derzeit keine große Lust, denn …«
Ein gräßliches Splittern und Kreischen von Holz übertönte seine letzten Worte. Dann durchlief ein heftiger Ruck das Schiff, und es neigte sich spürbar zur Seite.
»Ein Riff! Wir sind auf ein Riff aufgelaufen!«
Cædmon hätte schwören können, es war die Stimme, die eben »Mann über Bord« gemeldet hatte. Die Stimme des Unglücksboten. Entsetzen schwang darin.
Oswald schloß die Augen, nahm eine Hand vom Tau, um sich zu bekreuzigen, und senkte den Kopf.
Cædmon beugte sich weiter über den verängstigten Vogel, krümmte sich, so weit er konnte, zusammen, und so sah er es nicht, spürte lediglich, daß die Welt plötzlich aus den Angeln geraten war und sich um ihre eigene Achse zu drehen schien, ein Heer von Geisterstimmenschrie in Panik auf, und er purzelte vornüber. Das Seil hielt ihn nur einen Augenblick. Dann prallte Bruder Oswalds Körper hart gegen seinen, und Cædmon stürzte in die Schwärze.
Das Wasser war so unglaublich kalt, daß er einen Moment glaubte, sein Herz werde stehenbleiben und der Kampf mit den Fluten bliebe ihm erspart. Doch sein Herz raste weiter. Er trat Wasser und erlebte einen Augenblick gänzlich unerwarteter Glückseligkeit. Sein gefühlloses linkes Bein bewegte sich und fühlte sich im Wasser nicht tauber an als das rechte. Dann rollte eine der gewaltigen Wellen über ihn hinweg, und als er prustend wieder auftauchte, hatte er den Falken verloren. Der Sturm heulte unverändert, aber die schwarzen Fluten verursachten ein viel größeres Getöse, so als seien es Felsblöcke, nicht Wassermassen, die sich mahlend aneinanderrieben und türmten.
Cædmon kämpfte sich strampelnd aus seinem Umhang und schwamm los. Dabei war
Weitere Kostenlose Bücher