Davids letzter Film
müsste auch ein Projektor für dieses Format stehen.«
Thea sah Flo an und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
»Ein Negativ durch die Maschine jagen? Wahrscheinlich ist es ein Unikat.« Es erschien Flo zu riskant. »Was ich meine, kann
man auch so erkennen. Hier, sieh dir das an.« Er deutete auf den Filmstreifen. »Hier fängt dieser Murnau damit an, eine neue
Szene einzurichten.«
Es war deutlich zu erkennen: Nachdem sich der Regisseur mit seinen Schauspielern abgesprochen hatte, gingen sie zusammen ans
andere Ende der Halle. Dort war eine Kulisse aufgebaut, die bisher im Dunkeln gelegen hatte, jetzt aber durch mächtige Scheinwerfer
in gleißendes Licht getaucht wurde. Offensichtlich drehte das Team einen Film, der in der Zukunft spielte, denn organische
Formen und technizistische Elemente dominierten das Design der Kulisse. David und seinem Bühnenbildner war es gelungen, eine
Welt zu gestalten, die so aussah wie eine Zwanziger-Jahre-Vision der Jahrtausendwende. Wie man sich 1928 die Welt um 2000
vorgestellt hatte. Oder vielmehr, wie David sich vorstellte, dass man sich damals die Zukunft vorgestellt hatte.
»Ich denke, es ist so«, sagte Flo. »Der Film, den wir hier in der Hand halten, ist Film 1. Darin gibt es einen Regisseur, der einen Film dreht. Nennen wir ihn Murnau. DerFilm, den er dreht, ist Film 2. Und was ist in Film 2 zu sehen?«
Thea lachte. »Die Arbeit an Film 3?«
Flo grinste. Ihre Lebhaftigkeit war hinreißend.
Sie nahm ihm die Rolle aus der Hand und spulte den Film weiter ab. »Lass sehen!«
Langsam ordnete sich die Szene, die der Regisseur einrichtete. Und es kam, was kommen musste. Die Figuren in Murnaus Zukunftsvision
inszenierten selber einen Film. Film 3. Eine dieser Figuren hob sich von den anderen deutlich ab. Offensichtlich hatte sie das Sagen. Und als sich diese Figur in
die Kamera drehte, konnte man auch erkennen, wer es war.
Es war David!
Und der Film, den er drehte? Film 3? Es war ein historischer Film. Über die zwanziger Jahre. Es war der Film, den Thea und
Flo sich gerade ansahen!
F3=F1!
Thea ließ den Streifen sinken.
Flo lächelte sie an. »Wenn man es so im Bild sieht, ist es ganz einfach, oder? Und was mich am meisten daran fasziniert: die
Idee funktioniert. In gewisser Weise ist Murnaus Film wahrhaftiger als Davids Film.«
Thea runzelte die Stirn. »Weil in Murnaus Film das, was in Davids Film außerhalb des Rahmens bleibt, nämlich David und seine
Crew, selbst als Teil des Films zu sehen ist.«
Florian nickte. »Genau.« Nachdenklich sah er durch das große Wohnzimmerfenster in den Garten. Draußen war es inzwischen stockfinster.
Die Bäume wogten wie schwarze Riesen in der winterlichen Brise.
»Ich erinnere mich dunkel«, murmelte Thea. »Etwas in dieser Richtung hatte David mal gesagt. Aber ich hatte mir das gar nicht
richtig vorstellen können.«
»Er hat es einfach umgedreht. Der Schein ist die Wirklichkeit.« Fast sprach Flo zu sich selbst. »Es ist nicht so, dass wir
erst den Schein durchdringen müssen, um dadurch an die wahre Wirklichkeit zu gelangen. In Wahrheit ist das, was wir für bloßen
Schein halten, sozusagen das Wirklichste, was wir bekommen können. Das aber müssen wir uns erst einmal klarmachen!«
Er öffnete die Glastür zum Garten. Das Rauschen der Zweige war bis ins Zimmer hinein zu hören. Hatte er da etwas gesehen?
Florians Blick wanderte über den Rasen. Zu den mächtigen Bäumen, zu den Terrakottavasen mit den Lorbeerbäumchen auf den Pfeilern
des Gitters, zu der kleinen Marmorskulptur einer römisch gekleideten Frau, die am Ende eines Weges aufgestellt war. Am Ende
des Abhangs schimmerte durch die Bäume hindurch der See, an den das Grundstück grenzte.
Er drehte sich zu Thea um. »Verstehst du? Es kommt nicht darauf an, eine Wirklichkeit hinter unseren Vorstellungen und angeblichen
Illusionen zu suchen. Sondern darauf, unsere Vorstellungen als das zu begreifen, was die Wirklichkeit prägt – nicht umgekehrt!«
Thea zog die Decke enger um sich. Von draußen kam es kalt herein. Sie starrte an Flo vorbei. Plötzlich zuckte sie zusammen.
»Ist da draußen was?«
28
Flo starrte in die Dunkelheit. Auch ihm war etwas aufgefallen. Aber was? Der Eindruck musste so flüchtig gewesen sein, dass
er ihn nur unbewusst wahrgenommen hatte. Dennoch fühlte er, dass irgendetwas da draußen seine Aufmerksamkeit erregt haben
musste, so wie er manchmal den Eindruck hatte, es
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