DEAD SHOT
dass es heute wegen der Hochzeit recht ruhig im Krankenhaus bleiben wird«, sagte sein Vater. »Professor Grosvenor und ich werden das Labor fast für uns haben.« Jeremy nickte. Gut. Perfekte Alibis, falls benötigt.
Vater und Sohn tranken ihren Tee, und nachdem Juba seine Mutter zum Abschied in den Arm genommen hatte, ging er zum Auto, warf seinen Reisekoffer auf die Rückbank und setzte sich auf den Beifahrersitz. Während sein Vater sich in den Verkehr einfädelte, schrieb Jeremy etwas auf einen Zettel und hielt ihn seinem Vater hin. »Du darfst heute nicht nach London«, stand dort geschrieben. Der Vater las die Notiz und reichte sie mit einem kleinen Nicken zurück. Der Sohn zerriss den Zettel in kleine Schnipsel, die er nach und nach aus dem offenen Fenster warf.
Jeremy lehnte sich zurück und betrachtete seinen Vater, der das Lenkrad locker mit den sanften, sicheren Händen eines talentierten Chirurgen hielt. Er hatte sein ganzes Leben hart gearbeitet, nur um mit ansehen zu müssen, wie seine Träume zerplatzten. Er hatte etwas Besseres verdient. Als junger Medizinstudent hatte er seine arg mitgenommene Heimat Libanon verlassen und sich gleich am ersten Tag in England verliebt. Die wechselvolle, schillernde Geschichte des britischen Weltreichs faszinierte ihn, und daher reiste er durch das ganze Land und wollte ein Teil von Großbritannien werden, wusste aber, dass er wegen des dunklen Teints, der dunklen Augen und der schwarzen Haare nie ein richtiger Engländer werden würde. Immer würde ihn sein fremdländischer Akzent verraten. Um die Distanz zwischen sich und der Gesellschaft, der er angehören wollte, zu überwinden, setzte er sich der größten Schande seines Lebens aus, indem er seiner Heimat für immer den Rücken kehrte und die britische Staatsbürgerschaft annahm.
Aziz Osman erwarb sich einen guten Ruf als genialer junger Arzt, der Patienten aus der Oberschicht heilte. Alles lief optimal, bis die alte und krebskranke Lady Wallendar auf seinem OP-Tisch starb. Es tat nichts zur Sache, dass die korpulente Frau bereits über achtzig war und sich eigentlich keiner Operation mehr hätte unterziehen dürfen. Als Osman sie aufschnitt, sah er, dass die Leber, der Magen, die Nieren und das Herz fast ganz zerstört waren. Dann erlitt sie noch auf dem OP-Tisch einen Herzinfarkt und starb zwanzig Minuten später. Lord Wallendar hatte ein Wunder herbeizwingen wollen und sehr viel Geld dafür gezahlt. Er gab Osman die Schuld, und von jenem Augenblick an war er mit dem Vorwurf behaftet, ein wertloser arabischer Knochenbrecher zu sein. Die Tür zur Oberschicht wurde ihm vor der Nase zugeworfen, und der Traum von der eigenen florierenden Praxis verpuffte. Man schimpfte ihn einen Wog , eine Abkürzung für »wertloser orientalischer Gentleman«. Die Spitze des Spotts.
Der Arzt beschloss, dass seine Kinder nicht derselben Barriere ausgesetzt sein sollten, und daher beantragte Aziz Osman auf Anraten seiner Freunde bei der zuständigen Behörde formell eine Namensänderung. Aus Aziz wurde Allen, dem Nachnamen Osman wurde ein Buchstabe angehängt: Osmand. Im Jahr darauf kam sein Sohn zur Welt, und Jeremy Osmand wuchs wie alle anderen englischen Jungs auf.
Das Auto hielt vor dem neuen St.-Pancras-Bahnhof bei King’s Cross. Jeremy holte seinen Koffer von der Rückbank und betrat den Bahnhof. Da er auf den Kontinent reisen würde, zog er die Magnetkarte durch das Lesegerät und passierte ohne Probleme die Zollabfertigung und die Leibesvisitation, denn er hatte nichts zu verbergen. Hatte man die sterile Abreisezone einmal erreicht, brauchte man am Ziel der Reise, am Brüsseler Hauptbahnhof, nicht noch einmal durch die Leibesvisitation. Der Hochgeschwindigkeitszug Eurostar fuhr um 6.10 Uhr. Im Gang der ersten Klasse saß Jeremy bequem auf Sitz Nr. 55, im Nichtraucherwagen 9, und las die International Herald Tribune .
Der Eurostar raste in den fünfundvierzig Kilometer langen Eurotunnel, ließ den Ärmelkanal hinter sich und kam am Festland an. Zweieinhalb Stunden nach der Abreise in London war Jeremy schon in Brüssel. Er nahm ein Taxi zum Silken Berlaymont Hotel auf dem Boulevard Charlemagne, bekam dort auf Anfrage ein Zimmer zu früher Stunde und begab sich direkt dorthin. Mit der elektronisch kodierten Karte ließ sich die Zimmertür öffnen.
Jeremy Osmand schaltete den Fernseher ein und legte sein Handy auf einen kleinen polierten Tisch neben dem weichen Sessel vor der TV-Anlage. Dann hängte er sein Jackett auf
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