Deathkiss - Suess schmeckt die Rache
verständlicherweise. »Geben Sie mir eine Stunde Zeit. Ich habe noch zu tun.«
»In Ordnung.« Er legte auf, und Shannon stieg aus dem Bett.
»Wer rastet, der rostet«, sagte sie leise. Khan hob sein zerfetztes Ohr, rührte sich jedoch nicht von seinem Platz auf der Bettdecke. »Ja, ich rede mit dir.« Sie kraulte sein Fell und ging dann in die Dusche. Ihr Hinterkopf pochte noch immer schmerzhaft, ihre Augen brannten. Sie hatte nur wenige Stunden geschlafen, und es war ein wenig erholsamer Schlaf gewesen, gequält von Albträumen über Mary Beth.
Das heiße Wasser der Dusche tat gut, und es gelang Shannon, sich die Haare zu waschen, ohne allzu viel Shampoo in die Augen zu bekommen oder die genähte Wunde an ihrem Hinterkopf zu berühren. Sie entschied, die nassen Locken an der Luft trocknen zu lassen, putzte sich die Zähne und legte Lippenstift und Wimperntusche auf.
Das Gesicht, das sie aus dem Spiegel ansah, war nicht unbedingt für Hollywood geeignet, aber daran war nun einmal nichts zu ändern.
Sie zog eine frische, abgewetzte Jeans und ein T-Shirt mit V-Ausschnitt an. Ihre Rippen und die Schulter fühlten sich erheblich besser an.
»Sauberkeit ist alles«, sagte sie zu Khan, der sich auf dem Bett räkelte. Dann ging sie noch einmal ins Bad und schüttelte eine Vicodin-Tablette aus dem Röhrchen. In Gedanken plante sie den bevorstehenden Tag. Travis Settler war der erste Punkt auf ihrer Tagesordnung, dann musste sie sich um die Hunde, ihre Mutter, ihre Brüder und wer weiß um wen sonst noch kümmern. Sie zögerte einen Moment, die Tablette noch in der Hand, und nahm sich vor, ab sofort nichts mehr einzunehmen, was stärker war als rezeptfreie Mittel. Sie brauchte heute einen klaren Kopf. Normalerweise nahm sie keine Medikamente, und sie wollte die Schmerzmittel so schnell wie möglich wieder absetzen. Wenn die Schmerzen unerträglich wurden, gut, dann konnte sie immer noch eine Tablette einnehmen, wenn nicht, hieß es eben ›Augen zu und durch‹, wie ihr Vater zu sagen pflegte.
Ihr Vater.
Bei dem Gedanken an ihn fragte sie sich, was er zu diesen Brandstiftungen und Todesfällen gesagt, was er unternommen hätte … Patrick Flannery war ein Mann der Tat gewesen und hatte oft genug Gesetze missachtet, wenn es dem Zweck dienlich war. Sein Beruf war ihm wichtiger als seine Frau und die sechs Kinder; er war ein sachlicher Mensch, dessen Trinkgewohnheiten und Gesetzesverstöße ihn jedoch letztendlich seinen Job gekostet hatten.
»Ach, Pop«, flüsterte sie, sah im Geiste sein Gesicht vor sich und glaubte, ihn sagen zu hören: Kopf hoch, Shannon. Das Leben ist nicht immer einfach, aber stets interessant.
Leider bedeutete ›interessant‹ mitunter auch schmerzhaft. Sie brauchte sich nur an den grauenhaften Anblick von Mary Beths verbrannter Leiche zu erinnern.
Shannon gab die Tablette zurück ins Röhrchen, stellte es in den Medizinschrank und schloss die Spiegeltür.
Stattdessen nahm sie ein paar Ibuprofen. »Frühstück«, erklärte sie Khan, schluckte die Pillen ohne Wasser, beugte sich dann vor und spülte mit ein paar Schlucken direkt aus dem Wasserhahn nach.
Der Hund tappte vor ihr her die Treppe hinunter und in die Küche, wo Shannon die Kaffeemaschine befüllte. Während der Kaffee durchlief, fütterte sie Khan und warf einen Blick nach draußen. Die Sonne stand schon hoch, und durch ein offenes Fenster wehte warmer, trockener Wind herein. Ein weiterer Tag, an dem die Temperatur weit über dreißig Grad steigen würde. Es war ein Sommer der Dürre und der ständigen Angst vor Waldbränden.
Wie in dem Jahr, als Ryan starb.
Shannon mochte nicht an jenen atemlosen, heißen Spätsommer denken, in dem die Strom- und Wasserversorgung knapp geworden war. Ständig hatte es irgendwo in der Umgebung gebrannt.
Die Hitze und die Angst hatten die Menschen reizbar gemacht. Shannon hatte es in Ryans Gesicht gesehen, und ihr war klar gewesen, wenn er erfuhr, dass sie die Scheidung wollte, würde er erst recht wütend werden. Die einstweilige Verfügung, die ihm verbot, sie noch länger zu behelligen, war in ihren Augen nur ein wertloser Fetzen Papier.
Vor Ryan und seiner Wut gab es kein Entkommen. Nicht einmal ihre Brüder hatten sie beschützen können. Und niemand konnte verhindern, dass sie ihr Baby verlor. Niemand hatte es vermocht. Sie spürte einen Kloß im Hals, als sie an ihre zweite Schwangerschaft zurückdachte. Sie schloss ganz fest die Augen, und die alte Trauer und Wut strömten auf sie ein.
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