Deathkiss - Suess schmeckt die Rache
Veranda.
Sie warf ein paar schmutzige Kleidungsstücke über den Nagel, kroch hastig aus dem Schrank und warf sich aufs Bett. Ihr Herz hämmerte, als sie das Schloss klicken hörte und die Tür geöffnet wurde.
Schwere Schritte näherten sich.
Entsetzt bemerkte sie, dass sie die Schranktür offen gelassen hatte. Aber jetzt war keine Zeit mehr, sie zu schließen.
Im nächsten Moment wurde die Tür zu ihrer Kammer so heftig aufgestoßen, dass sie gegen die Wand schlug. Erschrocken blickte Dani zu ihm auf und wusste, dass etwas geschehen war.
Etwas Schlimmes.
Seine sonst so gleichmütige Fassade war dahin. Sein Haar war ungekämmt, seine Pupillen klein wie Stecknadelköpfe, und er strahlte eine Verzweiflung aus, die sie bis ins Innerste entsetzte. Sie hoffte inbrünstig, dass er nicht in den Schrank blickte und den Nagel sah, der inzwischen fast einen Zentimeter weit aus dem Boden ragte.
Verschwitzt, staubbedeckt und schwer atmend baute er sich vor ihrer Pritsche auf. Er wirkte, als stünde er unter Strom. »Steh auf!«, befahl er und wies mit einer abrupten Geste in den Wohnbereich. Den offenen Schrank schien er gar nicht wahrzunehmen. »Gehen wir.«
»Wohin?«
»Da rein.« Ein Muskel über seinem Auge zuckte. Dani schwieg, so gern sie auch gewusst hätte, was passiert war. Dass er in der Nacht nicht zurückgekehrt war, wich von der gewohnten Routine ab.
Sie ging hinaus in den Wohnbereich.
»Setz dich«, befahl er und deutete auf den baufälligen Kamin. »Und lass dir keine Dummheiten einfallen.«
Dann begann er Feuer zu machen. Er musste durchgedreht sein – trotz der Hitze im Raum schichtete er zerknülltes Papier, Kleinholz und größere Scheite auf und zündete dann das Papier an. Dabei wiegte er sich auf den Fersen vor und zurück und grunzte zufrieden, als die Flammen knisternd immer höher schlugen, bis das Feuer lichterloh brannte.
Zum ersten Mal hatte Dani Gelegenheit, die Fotos auf dem Kaminsims näher zu betrachten. Sie stellte fest, dass es sich um sechs Bilder handelte, offenbar ziemlich alte Aufnahmen. Vier davon waren Porträts von ernsten jungen Männern, die einander stark ähnelten: glänzend schwarzes Haar, durchdringende blaue Augen, deren Blick herausfordernd wirkte, und schmale Lippen. Ein weiteres Bild zeigte ein junges Hochzeitspaar. Die Frau trug ein langes, weißes Brautkleid mit Schleier, der Mann einen Smoking. Dem Aussehen nach hätte er einer der vier jungen Männer auf den Porträtfotos sein können, zu einem anderen Zeitpunkt aufgenommen. Das letzte Bild war das Porträt einer Frau. Bei dem Anblick krampfte sich Danis Herz zusammen. Die Frau hatte rötlich braunes Haar, große, grüne Augen, und sie lächelte, wobei ein wenig von ihren Zähnen zu sehen war. Es schien, als belustigte sie sich heimlich über irgendetwas. Sie stützte die Wange in eine Hand und hatte die Finger in die kastanienbraunen, wilden Locken geschoben.
»Wer sind die Leute auf den Fotos?«, wollte Dani wissen. Tausend Fragen schwirrten ihr durch den Kopf.
Ihr Entführer antwortete nicht.
»Die Männer sind alle miteinander verwandt, nicht wahr? Sind sie Brüder?«
Er kniete vor dem Kamin und starrte ins Feuer, doch jetzt blickte er mit einem Ruck auf, als hätte er Dani völlig vergessen. Er runzelte finster die Stirn. »Du fragst zu viel.«
»Wer sind sie?«, beharrte Dani.
»Halt den Mund.« Der Mann erhob sich rasch und streckte die Hand nach dem Kaminsims aus. Im ersten Moment dachte Dani, er wolle die Bilder mitsamt Rahmen verbrennen, doch stattdessen legte er seine Taschenlampe dort ab und zog dann ein kleines Diktiergerät und ein zusammengefaltetes liniertes Stück Papier aus der Tasche. Der Rand des Blattes war ausgestanzt, wie von einem kleinen Spiralblock abgerissen. Darauf standen wenige Zeilen.
Der Entführer hockte sich neben Dani und hielt ihr das Diktiergerät hin. »Lies«, wies er sie an.
Dani überflog die in Blockbuchstaben geschriebenen Worte:
mommy, hilf mir. bitte, mommy. ich habe Angst. komm und hol mich hier raus. ich weiss nicht, wo ich bin, und ich habe angst, dass er mir was antut. bitte, mommy. beeil dich.
Dani sah ihren Entführer an. Er roch nach Rauch und nach Schweiß. »Meine Mutter ist tot«, flüsterte sie. Ein tiefer Schmerz überkam sie bei dem Gedanken an Ella Settler, die überbehütende Mutter, die sie zur Sonntagsschule geschickt, fast jeden Abend vor dem Schlafengehen mit ihr Mathe und Geschichte gepaukt hatte und sich keine Frechheiten gefallen
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