Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Stück im Raum bildeten: einen Webstuhl. Gemma ging wie magnetisch angezogen darauf zu und konnte der Versuchung nicht widerstehen, das zarte Gewebe zu berühren, das dort eingespannt war.
»Was wird das?« fragte sie Francesca.
»Ein Wandteppich. Damit verdiene ich das Geld zum Leben. Wandteppiche verkaufen sich gut. Aber ich mag sie auch.«
»Das kann ich verstehen.« Überall lagen und hingen Textilien in allen erdenklichen Farben und Mustern, gefaltet auf dem Arbeitstisch oder einfach über den Möbeln drapiert. Francesca mußte erst einige Stücke beiseite räumen, um auf dem Sofa Platz nehmen zu können - wie eine Maus im Nest, dachte Gemma.
Sie betrachtete die Fotografien näher, die sehr künstlerisch und eindrucksvoll waren. Ihre melancholische Strenge bildete einen ungewöhnlichen Kontrast zu Francescas Textilien.
»Sind die Fotos von Morgan?« fragte sie. »Faszinierend.«
»Natürlich sind das Morgans Fotos«, antwortete Francesca und sah Gemma prüfend an. »Wußten Sie nicht, daß Morgan ein bekannter Fotograf ist?«
»Ich fürchte, ich weiß in jedem Fall zu wenig.« Gemma setzte sich vorsichtig in den Schaukelstuhl gegenüber Francesca. Sie griff nach ihrem Becher auf dem niedrigen Tisch. »Eigentlich beschränkt sich mein Wissen auf die Tatsache, daß Morgan mit Lydia Brooke verheiratet war und Vic ein Buch über Lydias Leben geschrieben hat.«
»Das mit Dr. McClellan tut mir leid«, murmelte Francesca und starrte auf den Becher in ihren Händen. Sie sah zu Gemma auf. »Sie machte einen sympathischen Eindruck - kaum zu glauben, daß eine so junge Frau plötzlich stirbt.«
»Sie ist keines natürlichen Todes gestorben, Mrs. Ashby. Sie wurde ermordet. Vergiftet.«
Francesca starrte sie an. »Aber das ist doch ... das ist unglaublich ... Warum sollte jemand sie umbringen wollen?«
»Das wissen wir nicht«, gestand Gemma. »Deshalb interessiert es uns natürlich, mit wem sie in letzter Zeit Kontakt hatte. Sie hat vielleicht zu irgend jemandem etwas geäußert ...«
»Sie ist hiergewesen. Aber Morgan hat sich unmöglich benommen. Leider. Er hat sie einfach rausgeworfen.« Francesca runzelte die Stirn. »Aber ich verstehe nicht, was Sie oder ... Mr. McClellans Ex-Mann damit zu tun haben. Oder wollen Sie Dr. McClellans Buch zu Ende schreiben?«
Gemma wappnete sich mit einem Schluck Kaffee. »Wir sind von der Polizei, aber wir haben in diesem Fall keinen offiziellen Auftrag - nur ein besonderes Interesse.« Als Francescas Augen groß wurden, fügte sie hinzu: »Hören Sie, Mrs. Ashby. Ich kann mich nicht verstellen, und ich kann Sie nicht zwingen, mit mir zu sprechen. Aber ich bin überzeugt, daß Vic sterben mußte, weil sie etwas über Lydia Brooke herausgefunden hatte. Ich möchte alles über Lydia wissen - alles, was Sie und Ihr Mann mir sagen können. Warum wollte Morgan weder mit Vic noch mit Duncan über Lydia sprechen? Sie ist seit fünf Jahren tot.«
Francesca stellte ihren Kaffeebecher auf den Tisch, stand auf und ging zum Webstuhl. Sie berührte leicht seinen Rahmen und wandte sich dann Gemma zu, die Arme vor der Brust verschränkt. »Glauben Sie, die Zeit spielt eine Rolle?« Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben offenbar gar nichts verstanden. Haben Sie je erlebt, wie zerstörerisch Liebe sein kann? Lydia und Morgan haben dieses Spiel bis zur Perfektion getrieben. Sie waren wie besessen voneinander, und das hat sie vergiftet. Auch heute noch kommt Morgan nicht von ihr los. Sie frißt ihn von innen auf - wie Krebs.«
Gemma starrte Francesca an. Die vernünftige Gleichmut der Frau verblüffte sie. »Wie können Sie mit einem Mann leben, der so für eine andere gefühlt hat - oder noch fühlt?«
Francesca sah sie einen Moment mit leicht geöffneten Lippen an, als wolle sie ihr sagen, sie solle sich um ihren eigenen Dreck kümmern. Dann verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. »Es ist nicht so einfach. Ist es doch nie, oder?« Sie setzte sich Gemma gegenüber. »Und natürlich habe ich mir vorgestellt, daß es sich ändern würde. Das tut man am Anfang immer. Schließlich hat er Lydia meinetwegen verlassen. Ich dachte, das bedeutet, daß er mich mehr liebt.« Kopfschüttelnd sagte sie: »Was ich nicht begriffen habe, war, daß ich zufällig der nächstliegende Fels in der Brandung und verfügbar war, daß Morgan mit der Verzweiflung des Ertrinkenden nach einem Halt suchte, um zu überleben. Er hat erkannt, wohin die
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