Deer Lake 02 - Engel der Schuld
eine Wahrheit, die tiefer steckte, als er ihr zeigen wollte. Für sie war Jay Brooks ein Mann, der einem direkt ins Gesicht sah, wenn er log, und dessen hübsche blaue Augen dabei vor Ehrlichkeit glänzten. Er war schließlich einmal Anwalt gewesen.
»Wann haben Sie Ihr erstes ermordetes Kind gesehen?« fragte er und beobachtete sie aus dem Augenwinkel, während er seine Hüfte gegen einen Stapel Kisten lehnte.
»In meiner zweiten Woche in Uniform«, sagte sie. »Eine Dreijährige, die der Alkoholikerfreund ihrer Alkoholikermutter umgebracht hatte.«
»Ich habe mein erstes heute gesehen.«
Dustin Holloman. Er betastete die Rücken einiger ihrer alten Schulbücher, aber sie wußte, daß er die Titel nicht sah. Er sah die Leiche eines Kindes, genauso wie sie, wenn ihr dieses dreijährige Mädchen einfiel, jedes Detail in brutaler Deutlichkeit, nach einem Jahrzehnt noch.
»Ich hatte meine eigenen Gründe, nach Deer Lake zu kommen, Agent O'Malley. Egoistische Gründe, das gebe ich bereitwillig zu. Ich dachte, ich könnte emotionale Distanz zu diesem Fall bewahren, aber heute morgen stand ich da am Straßenrand und habe gehört, wie die Mutter dieses Jungen weinte . . . Ich möchte nicht die Art Mann sein, die bei so etwas die Distanz wahren kann.«
Seine Stimme war hart geworden, seine Gefühle rührten Megan.
»Ich möchte helfen«, sagte er. »Ich muß helfen.« Jetzt sah er sie an, ohne Maske, ohne etwas vorzutäuschen. »Sie wissen, was es heißt, sich beweisen zu müssen, auch wenn einem niemand dabei zusieht.«
»Ja«, flüsterte Megan, ihr Blick irrte zu dem Gips an ihrer Hand. »Ja, ich weiß.«
»Also, was sagen Sie? Bin ich dabei?«
Sie war von Natur aus nicht vertrauensselig, schon gar nicht bei einem Mann wie Brooks. Aber sie wollte Wright hinter Gittern haben, und er konnte dabei helfen, diesen Prozeß zu beschleunigen. Sie brauchten einen Durchbruch, und sie brauchten ihn schnell. Der Schlüssel mußte irgendwo in Garrett Wrights Vergangenheit begraben sein, aber bei all dem, was sie in der letzten Woche um die Ohren gehabt hatten, hatte keine der beteiligten Behörden die nötige Zeit auf diese Suche verwendet. Sie war die einzige, die wirklich suchte, und die Verletzungen, die Wright ihr zugefügt hatte, behinderten sie, hielten sie auf. Brooks könnte ihre Beine ersetzen, ihre Hände, ein zusätzliches Gehirn sein, das daran arbeitete, das Puzzle zusammenzufügen.
Oder er versuchte, sich hinterlistig einen Bestseller zu erschleichen. Garrett Wright stand kurz davor, ungeschoren davonzukommen.
»Sie sind dabei«, sagte sie schließlich. »Ich hoffe, ich werde es nicht bedauern, Mister Brooks. Ich möchte nicht zur Garten-harke greifen müssen.«
Sie begannen um einundzwanzig Uhr dreiundvierzig mit der Durchsuchung. Und zwar, weil Mitch darauf bestand, mit dem Wohnhaus der Kirkwoods. Er tat sein Bestes, um den Vorgang für Hannah so erträglich wie möglich zu machen, und war froh, daß Pater Tom zur Stelle war, um sie zu unterstützen und zu trösten, während die Beamten nach einem Beweis dafür suchten, daß ihr Ehemann derjenige war, der ihren Sohn entführt und sie Höllenqualen hatte erdulden lassen.
Er liebte zwar seinen Beruf sehr, aber es gab Zeiten, in denen er es haßte, ein Cop zu sein.
Er erwartete, daß die Durchsuchung von Pauls Büro von Klagedrohungen Pauls begleitet sein würde, aber Paul war nicht an seinem derzeitigen Zweitwohnsitz. Die Decken waren ordentlich an einem Ende der Couch gefaltet, ein Kissen lag obenauf. Der Schreibtisch war makellos aufgeräumt. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß Paul überhaupt dagewesen war. Keine Anzeichen, daß Costellos Privatdetektiv York sich in den letzten vierundzwanzig Stunden Zutritt verschafft und sich mit Beweismaterial versorgt hatte. Niemand war überrascht, daß sie nichts fanden.
Als sie endlich im Lagerhaus am Rand des Industrieparks im Süden der Stadt eintrafen, war es schon nach Mitternacht. Der Nachtwächter, ein grauhaariger Alter namens Davis, ein Kerl mit schlechten Zähnen und Bierfahne, mußte aus dem Tiefschlaf geholt werden. Er führte sie, über die Kälte murrend, die Reihen der Lagerhäuser entlang. Jedes hatte etwa die Größe einer Garage, eine grell orangefarbene Tür und eine Nummer, die mit schwarzer Farbe aufgesprüht war. Sie blieben vor Nummer siebenunddreißig stehen. Davis kniete sich auf den Beton und schimpfte unaufhörlich, während er das Vorhängeschloß mit einem Schlüssel aus dem Büro
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