Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
analytisches Denken. Alles ist im Fluss - aber es gibt Regeln.
Dieses Schloss ist ein Hochsicherheitsschloss nach DIN-Norm. Es hat sechs Stifte, einige von ihnen pilzförmig. Das Profil des Schlüsselzylinders ist parazentrisch wie ein missgebildeter Blitz. Versicherer geben die Zeit, die man im Durchschnitt braucht, um es zu knacken, wegen des Schwierigkeitsgrads mit zwanzig Minuten an. Ich kann es in dreiundzwanzig Sekunden öffnen. Dafür braucht man Übung. Stunden. Tage. Wochen.
Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich zum ersten Mal in ein Haus eingebrochen bin. Es war in Deutschland, in Osnabrück, etwa 90 km nördlich von Dortmund. Das Haus gehörte einem Kaplan der Army, der meine Frau seelsorgerisch betreut und sie besucht hat, während ich weg war. Ich habe seinen
Hund im Gefrierschrank, im Bad und in der Waschmaschine zurückgelassen.
Das zweite Gebäude, in das ich eingebrochen bin, war ein Club der Special Forces in Knightsbridge, ein paar Schritte vom Hinterausgang von Harrods entfernt. Kein Schild an der Fassade weist auf seine Existenz hin. Es ist ein privater Club für jetzige und ehemalige Mitglieder der Geheimdienste und des SAS. Aber ich kann kein Mitglied werden, weil meine Mission so geheim ist, dass kein Mensch je von mir gehört hat. Ich bin unberührbar. Unbenennbar.
Ich kann durch Wände gehen. Schlösser zerbröseln unter meinen Fingern. Für mich sind die verschiedenen Stifte wie unterschiedliche Töne mit ihrem jeweils eigenen Klang und Timbre. Hört ihr? Das war der Schlussakkord. Die Tür öffnet sich.
Ich betrete die Wohnung und gehe behutsam über die lackierten Holzdielen. Mein Werkzeug packe ich wieder ein. Was ich jetzt brauche, ist eine Taschenlampe.
Die Schlampe hat Geschmack, was nicht immer unbedingt mit Geld einhergeht. Keines ihrer Möbelstücke ist in einem flachen Pappkarton geliefert und mit Inbusschlüsseln zusammengeschraubt worden. Der Couchtisch ist aus gehämmertem Kupfer, und die Keramikschalen sind handbemalt.
Ich halte nach Telefonen Ausschau. In der Küche liegt ein Mobilteil, im Wohnzimmer und Schlafzimmer steht jeweils eine Aufladestation.
Ich arbeite mich von Zimmer zu Zimmer vor und skizziere im Kopf den Grundriss der Wohnung. Es gibt Briefe zu lesen, Rechnungen zu sortieren, Telefonnummern und Fotos zu betrachten. Neben dem Telefon lehnt eine Geburtstagseinladung.
Was finde ich noch? Hier ist ein knalliger Umschlag aus Glanzpapier - Du bist herzlich eingeladen zu einer »Hen’s Party«. Ein Junggesellinnenabschied. Von Hand ist am unteren Rand hinzugefügt: Tanzschuhe mitbringen.
Die Wohnung hat drei Schlafzimmer. Das kleinste gehört
einem Kind. An der Wand hängen ein Coldplay-Poster und ein Harry-Potter-Kalender, daneben Pferdefotos und Schleifen von einem Pony Club. Ihr Schlafanzug liegt unter dem Kopfkissen. An einem Haken am Fensterbrett baumelt ein Kristall. Aus einer Truhe in der Ecke quellen Stofftiere.
Das Elternschlafzimmer hat ein eigenes angrenzendes Bad. Die Schubladen des Schminktischs sind vollgestopft mit Lippenstiften, Peeling-Lotionen, Nagellacken und Toilettenartikeln von Hotels und Fluglinien. In der untersten Schublade liegt ein Kosmetiktäschchen aus Kunstfell mit einem kleinen pinkfarbenen Vibrator und Handschellen.
Eine Veränderung des Luftdrucks lässt die Fensterscheiben klappern. Die Haustür ist aufgegangen und hat Zugluft im Treppenhaus erzeugt. Man hört Schritte. Einen Moment stehe ich mit gespitzten Ohren im Schlafzimmer. Schlüssel klimpern, bevor einer in den Zylinder geschoben und gedreht wird.
Die Wohnungstür geht auf und wieder zu. Ich spüre eine winzige Erschütterung unter meinen Füßen und höre ihre Stimmen. Mäntel werden ausgezogen und an Haken gehängt. Ein Wasserkessel wird gefüllt. Leises Lachen und der Duft von Essen steigt nach oben - irgendein asiatisches Imbissgericht mit Koriander und Koskosmilch. Ich höre, wie das Essen auf Teller gegeben und vor dem Fernseher verzehrt wird.
Anschließend wird das Geschirr abgeräumt. Jemand kommt nach oben. Ich ziehe mich rasch in einen Kleiderschrank zurück und verstecke mich hinter den Kleidern. Ich atme den Duft der Schlampe ein, verblasstes Parfüm und Schweiß.
Als Kind habe ich für mein Leben gern mit meinem Bruder Verstecken gespielt; diese Anspannung, die einem alle Eingeweide bis in die Eier zusammenzieht, die Furcht vor der Entdeckung. Manchmal habe ich mich zusammengerollt und versucht, nicht zu atmen, aber mein Bruder hat mich immer
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