Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
achten, wirken schnell eitel und übertrieben ehrgeizig, aber Ruiz kümmerte sich offensichtlich schon lange nicht mehr darum, was andere von ihm hielten. Er wirkte wie ein unförmiges dunkles Möbelstück, das nach Tabak und feuchtem Tweed roch.
Was mir ebenfalls auffiel, war sein Talent, auch in geschlossenen Räumen in die Ferne zu blicken, als ob er jenseits der Wände einen Ort ausmachen könnte, wo alles klarer, besser oder zumindest fürs Auge gefälliger war.
»Weißt du, was ich an diesem Fall nicht verstehe?«, fragt er.
»Was?«
»Warum hat niemand sie aufgehalten? Eine nackte Frau verlässt ihr Haus, steigt in ihr Auto, fährt fünfzehn Meilen, klettert über einen Sicherheitszaun auf einer Brücke, und kein Mensch schreitet ein. Hast du eine Erklärung dafür?«
»Das nennt man den Zuschauereffekt.«
»Das nennt man Gleichgültigkeit«, knurrt er.
Ich erzähle ihm die Geschichte von Kitty Genovese, einer Kellnerin aus New York, die Mitte der 1960er Jahre vor ihrem Haus überfallen wurde. Vierzig Nachbarn hörten ihre Hilfeschreie oder beobachteten, wie sie niedergestochen wurde, aber keiner rief die Polizei oder versuchte ihr zu helfen. Der Angriff dauerte zweiunddreißig Minuten. Sie konnte zwei Mal fliehen, aber ihr Angreifer holte sie jedes Mal wieder ein und stach weiter auf sie ein.
Der Anrufer, der schließlich doch Alarm schlug, rief zunächst einen Freund an, den er fragte, was er tun sollte, bevor er zu einem Nachbarn ging und ihn bat, die Polizei zu alarmieren,
weil er selber »nicht in die Sache verwickelt werden wollte«. Kitty Genovese starb nur zwei Minuten, nachdem die Polizei schließlich eintraf.
Das Verbrechen löste in Amerika und darüber hinaus massive Empörung und Fassungslosigkeit aus. Übervölkerung, Urbanisierung und Armut wurden als ausschlaggebende Faktoren für die Heranbildung einer Generation von Stadtbewohnern ausgemacht, die die Moral und das Verhalten von Käfigratten an den Tag legten.
Nach Abflauen der allgemeinen Hysterie und aufgrund gründlicher Studien identifizierten Psychologen den so genannten Zuschauereffekt. Wenn eine Gruppe von Menschen Zeuge eines Notfalls wird, erwartet jeder, dass ein anderer reagiert und die Initiative ergreift. Alle lassen sich durch die so genannte pluralistische Ignoranz bis zur Tatenlosigkeit einlullen.
Dutzende von Personen müssen Christine Wheeler am Freitagnachmittag gesehen haben - Autofahrer, Beifahrer, Fußgänger, Mautwächter, Hundebesitzer, die in Leigh Woods ihre Hunde ausgeführt haben -, und jeder von ihnen erwartete, dass ein anderer sich einmischen und ihr helfen würde.
Ruiz grunzt skeptisch. »Sind die Menschen nicht einfach liebenswert?«
Er schließt die Augen und atmet langsam aus, als wolle er die Welt ein wenig wärmen. »Wohin jetzt?«, fragt er.
»Ich möchte mir Leigh Woods ansehen.«
»Warum?«
»Vielleicht hilft es mir für mein Verständnis.«
Wir verlassen die Autobahn an der Abfahrt 19 und folgen einer Nebenstraße nach Clifton, die sich zwischen Sportplätzen, Bauernhöfen und Bächen windet, die nach der zurückgehenden Flut brackig und träge dahinfließen.
Die Pill Road geht in die Abbots Leigh Road über, und zur Linken tut sich hinter den Bäumen der dramatische Abgrund der Schlucht auf. Eine lokale Legende erzählt, dass sie von zwei
Riesen stammt, den Brüdern Vincent und Goram, die sie mit einer einzigen Spitzhacke schlugen. Als die Riesen starben, trieben ihre Leichen den Avon hinunter und wurden zu den Inseln im Bristol Channel.
Die Legende und die Namen gefallen Ruiz, vermutlich weil er einen Sinn fürs Absurde hat.
Ein Bogen aus Sandstein bildet den Eingang zu Leigh Woods. Die schmale Zufahrtsstraße endet auf einem kleinen Parkplatz. Hier hat man Christine Wheelers Wagen gefunden, geparkt unter herbstlichen Laubbäumen. Kein Ort, den sie unbedingt gekannt haben musste. Wenn sie nicht schon einmal hier war, hätte ihr jemand den Weg beschreiben können.
Dreißig Meter vom Parkplatz entfernt steht ein Wegweiser mit Hinweisschildern für verschiedene Rundwanderwege. Der rote Weg ist zwei Meilen lang und führt an den Rand von Paradise Bottom mit diversen Aussichten auf die Schlucht. Der violette Weg ist kürzer, führt dafür jedoch an Stokeleigh Camp vorbei, einer Hügelfestung aus der Steinzeit.
Ruiz geht voran und bleibt hin und wieder stehen, bis ich ihn eingeholt habe. Ich habe nicht die richtigen Schuhe an. Das hatte Christine Wheeler auch nicht. Wie nackt und
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