Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
steht, ist ja viel, viel älter. Und daß es so dicht eingesponnen daliegt, das lieb’ ich am meisten. Sieh doch nur hier, eine pure Wildnis.« Und dabei wies sie nach rechts hin auf ein niedriges und halb zerbröckeltes Mauerstück, das in seiner Front von Weinlaub halb überwuchert war, während von der Rückseite her allerlei Holunder- und Ebereschenbäume mit ihren schwarzen und roten Beeren in den inneren Schloßhof hineinwuchsen. »Und dies hier«, fuhr sie fort, »dies hier mit dem niedrigen Rundbogen, das muß die Kapelle sein, vielleicht nicht mehr im Gebrauch, aber doch in alter Zeit gewesen, viele hundert Jahre zurück. Versteht sich, da sind ja zwei Nischen, wo die Heiligen gestanden haben und der überhängende Turm. Und sieh nur, da ist auch das Glockenseil… Ach, Hannah, es bleibt dabei, das waren doch unsere besten Tage, wie wir noch mit dem Kirchenschlüssel in den Turm gingen und an dem Glockenseil zogen und den Abend einläuteten.«
Franziska, während sie so sprach, war wieder auf den Balkon hinausgetreten und schützte sich jetzt, so gut es ging, mit der Hand gegen die Sonne. Dabei sah sie nach dem Glockenturm hinauf, der im wesentlichen nichts war als eine vom Giebel her vorgeschobene Holzwelle mit einem hölzernen Schrägdach darüber. Auf dem Wellbaum aber, ganz wie segelreffende Matrosen auf einer Rahe liegen, lagen ein paar Arbeiter und zogen ein starkes Tau durch eine der Glockenösen, während ein paar andere von Dach und Giebel her ihre Kameraden bei der Hantierung unterstützten. Und wirklich nicht lange mehr, so sah Franziska, wie sich die größere Glocke zu senken begann, langsam und allmählich, bis sie das starke Bohlenbrett einer mit vier kleinen Pferden bespannten Schleife berührte, die mittlerweile von dem Torbogen her unter den Turm gefahren war.
Alles ging lautlos vonstatten, ohne daß irgendeiner der Schloßbewohner durch Neugier herbeigelockt worden wäre, vielleicht weil die Sonne so glühendheiß auf den Hof fiel. Endlich aber erkannte Franziska den Kutscher, der sie gestern vom Dampfschiff her abgeholt hatte.
»Was gibt es?« fragte sie hinunter.
»Kaput, Gräfin gnädigste.«
»Gestern?«
»Gestern«, klang es zurück. Und ehe sie weiterfragen konnte, setzte sich der Zug auch schon in Bewegung und bog vom Hof her in den Schlängelweg ein, den man unter dem Portal hin noch eine Strecke weit verfolgen konnte.
Franziska war blaß geworden und zitterte. »Hast du’s gehört?«
»Was?«
»Du fragst noch? Als man zu meinem Einzuge läutete…«
»… hatte die Glocke schon einen Sprung. Das ist es und weiter nichts. Glaube mir, ich versteh’ mich auf Glocken, und wenn du durchaus was von Zeichen und Auslegung haben willst, so sag ‘ ich dir, es heißt: ›Alles, was hier nichts taugt oder einen Sprung hat, das muß jetzt ans Licht und offenbar werden. Ein neues Leben unter der neuen Gräfin!‹ Ja, Fränzl, das heißt es.«
»Ach, Hannah, das sagst du so, weil du mir ansiehst, daß es mir einen Stich ins Herz gegeben hat, und weil du mich trösten willst. Aber du redest es mir nicht fort. Es gibt eben Zeichen und Träume.«
»Für die, die daran glauben. Ich habe meinen lutherischen Katechismus und das Gesangbuch. Und das ist besser als Traumbuch und Aberglauben.«
Eine Stunde später war der Graf zurück und ließ fragen, ob die Gräfin eine Spazierfahrt mit ihm machen und darnach die Bildergalerie besichtigen wolle. Der alte Toldy habe schon Ordre, die Vorhänge zurückzuziehen und für Luft und Licht zu sorgen.
Franziska war froh – an ein »Nein« war ohnehin nicht zu denken –, und in halb wiedergewonnener guter Laune bestieg sie gleich darnach den Korbwagen, in dem sie schon gestern die Fahrt vom Dampfschiffe bis zum Schlosse gemacht hatte. Der Graf fuhr selbst, war sehr aufgeräumt und fragte viel und rasch, schwieg aber beharrlich über den Zwischenfall, trotzdem die Gerätschaften und Taue noch umherlagen, deren man sich bei dem Herabholen der Glocke bedient hatte.
Der Park war eine Schöpfung aus des Großvaters Tagen her und überdeckte den halben Schloßberg, der nach rückwärts hin ebenso sanft und allmählich wie nach vorne hin steil und plötzlich abfiel. Auf der allmählich abfallenden Seite waren fünf große Terrassen angelegt, die zunächst durch Treppenstufen, aber nebenher auch durch in der Serpentine gebaute Fahrwege miteinander Verbindung hielten. Innerhalb dieser Wege ging jetzt die Fahrt. Auf der zweiten Terrasse befand sich
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