Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
kühlendes, aber mildes Gewitter niedergehen!
Ihm war unaussprechlich schwer ums Herz. Wie konnte er zwischen zwei so gleichermaßen schrecklichen Möglichkeiten wählen? Gewiss, er konnte erst einmal nach Kwanitupul fahren und sich dann entscheiden, ob er, wie Morgenes es gewünscht hatte, dort bleiben oder, wie Älterer Mogahib und die anderen ihm befohlen hatten, nach Nabban weiterreisen sollte. Er versuchte, sich mit diesem Gedanken zu beschwichtigen, fragte sich aber, ob derartige Überlegungen nicht in Wirklichkeit bedeuteten, dass man die Wunde sich entzünden ließ, anstatt die Zähne zusammenzubeißen und sie zu säubern, damit sie heilen konnte.
Tiamak dachte an seine Mutter, die den größten Teil ihres Lebens damit zugebracht hatte, auf den Knien das Kochfeuer zu versorgen, im Mörser Getreide zu mahlen und Tag für Tag zu arbeiten, von morgens an, wenn es noch dunkel war, bis abends, wenn es Zeit war, in die Hängematte zu klettern.
Er empfand wenig Respekt für die Dorfältesten, fürchtete sich jedoch auf einmal davor, dass der Geist seiner Mutter ihm zusehen könnte. Sie würde nie verstehen, dass ihr Sohn um fremder Menschen willen seinem eigenen Volk den Rücken kehren könnte. Sie würde wollen, dass er nach Nabban ging. Zuerst dem eigenen Volk dienen und sich danach um die persönliche Ehre kümmern, das hätte seine Mutter gesagt.
Der Gedanke an sie ließ ihm alles ganz klar scheinen.
Zuallererst war er ein Mann des Wran; nichts konnte das ändern. Er musste nach Nabban. Morgenes, dieser gütige alte Mann, würdedas einsehen. Sobald er die Pflicht gegenüber seinem Volk erfüllt hatte, würde er dann nach Kwanitupul zurückkehren, wie seine Freunde aus den Trockenländern es von ihm erbeten hatten.
Diese Entscheidung befreite Tiamaks Schultern von einem Teil der auf ihnen lastenden Sorgen. Er fand, er könne ruhig bald Rast machen, um sich ein Mittagessen zu fangen. Er griff nach hinten und untersuchte seine Angelschnur, die ans Heck des Flachboots gebunden war. Sie kam ihm leicht vor; als er sie einholte, merkte er zu seinem Ärger, dass der Köder wieder einmal abgefressen war. Was immer auf seine Kosten gespeist hatte, es hatte sich nicht mit Dankesbezeugungen aufgehalten. Wenigstens war der Haken noch da. Metallhaken waren schrecklich kostspielige Gegenstände – für diesen hier hatte er mit einem ganzen Tag Arbeit als Dolmetscher auf dem Markt von Kwanitupul bezahlt. Einen Monat später hatte er auf demselben Markt das Pergament entdeckt, das Nisses’ Namen trug, und hatte auch dafür den Lohn eines ganzen Tages hingegeben. Zwei teure Anschaffungen, aber der Angelhaken hatte sich tatsächlich als wesentlich stabiler erwiesen als die sonst von ihm aus Knochen geschnitzten, die gewöhnlich beim ersten Widerstand abbrachen. Und das Nisses-Pergament – er klopfte schützend auf das Ölhautsäckchen zu seinen Füßen – war, wenn er seine Herkunft richtig erkannt hatte, ein Juwel von unschätzbarem Wert. Kein schlechtes Ergebnis zweier Tage auf dem Markt.
Tiamak holte die Schnur ein, wickelte sie vorsichtig auf und steuerte das Boot dann näher an die Mangrovenbank heran. Langsam stakte er sich vorwärts und wartete, bis die Mangroven vorübergehend einem kurzen Streifen schlammiger Erde Platz machten, dicht besetzt mit wehendem Schilfrohr. Er brachte das Boot so nahe wie möglich an den Rand des Wasserlaufs, zog das Messer aus dem Gürtel und grub in dem nassen Boden, bis er endlich ein Gelege von Spuckfliegeneiern fand. Er verstaute die glänzenden Kügelchen in seinem Tuch, nachdem er seinen Haken erneut geködert hatte. Dann warf er die Leine wieder ins Wasser, wo sie hinter dem Boot herschwamm. Als er in die Flussmitte hinausstakte, grollte Donner in der Ferne. Diesmal schien er weiter weg zu sein als beim letzten Mal. Tiamak schüttelte betrübt den Kopf. Das Gewitter ließ sich Zeit.Es war am späten Nachmittag, als er aus dem überhängenden Dickicht der Mangroven herauskam und wieder in schattenloses Sonnenlicht eintauchte. Der Wasserweg wurde jetzt breiter und tiefer. Ein Meer von Schilf erstreckte sich bis zum Horizont, fast reglos in der brütenden Hitze, durchzogen von den glänzenden Rinnen anderer Wasserläufe. Der Himmel war grau und voll drohender Wolken, aber weiter hinten schien hell die Sonne, und Tiamak fühlte sich unwillkürlich erleichtert. Ein Ibis stieg mit weißen, langsamen Flügelschlägen auf und ließ sich ein kleines Stück weiter wieder im Rohr nieder.
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